Neues Leben, Religion und Poesie
Aufruhr im Ried
“Dieser Abend ist ein Türöffner für unser Anliegen, unaufgeregt über das Sterben zu sprechen”, sagt Mechthild Herold, Vorsitzende der Hospizgruppe Ried vor 350 Besuchern in der Evangelischen Kirche von Biebesheim. Mit Nico Kopf und Anne-Bärbel Ruf-Körver von der Kirchengemeinde hat sie Gabriele Wohmann und Georg Magirius zu einer Lesung aus “Sterben ist Mist, der Tod aber schön” eingeladen.
Verzweiflung und Lakonie
Vollkommen gelassen geht es dann aber doch nicht zu, schildert Anke Mosch im Darmstädter Echo vom 14. November 2011: “Rund um die evangelische Kirche verstopften Autofahrer auf der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz mit ihren Wagen – auffallend viele davon mit Darmstädter Kennzeichen – die Straßen. Nach der Veranstaltung sah man so manchen Ortsunkundigen auf der nicht minder verzweifelten Suche nach dem so eilends abgestellten Wagen durch die Gegend irren. Völlig unaufgeregt angesichts dieses Aufruhrs gab Gabriele Wohmann mit ihrer dunklen, leicht rauchigen Stimme lakonisch Antwort auf die Fragen von Georg Magirius und las gemeinsam mit ihm Passagen aus dem Buch.”
Nüchtern und träumerisch
Wieso hätte sich die Autorin aufregen sollen? Es geht doch nur ums Sterben, weiter nichts. Ein – soll man das wirklich so sagen? – Thema, dem Wohmann sich tatsächlich nüchtern nähert, gilt sie doch als die große Realistin unter den deutschen Gegenwartsautoren. Allerdings ist da noch mehr als dieses Thema, nämlich die für den Abend angekündigten Himmelsträume, außerdem die ins realistische Schreiben Wohmanns eingewobene Bildhaftigkeit. Sie scheint ein nicht kontrollierbares Potenzial in sich zu bergen, weil sie auf etwas verweist, das wohl doch erst jenseits der Unaufgeregtheit beginnen kann.
Gefühlsüberschüsse im Mund
Dieses Potenzial verleiht kleine Kicks und noch mehr! Gemeint ist, was sich in Bechern, Schüsseln, Gläsern und auf Tellern oder Blechen finden lässt. Und natürlich im Mund, wo die Geschmacksnerven Gefühlsüberschüsse produzieren. Der Theologe und Schriftsteller Magirius, Herausgeber von “Sterben ist Mist, der Tod aber schön”, hat mit seinen Hinweisen auf dieses Potenzial der ausgehungert wirkenden Wohmann-Forschung einen überraschenden Impuls gegeben. Nachprüfbar im akademisch-wissenschaftlichen Sinn ist der Ansatz kaum. Denn Magirius’ Veröffentlichungen dazu sind zwischen Genuss und Spiel entstanden, nicht mit Fußnoten versehen und durch episch angelegte Symposien geschleift. Und doch erfährt seine These im Ried nun eine epiphanieartige Materialisation.
Apfelkuchen
Es ist freilich nicht so, dass es überhaupt keinen heranzuziehenden schriftlichen Ausdruck dieses innovativen Forschungsansatzes gäbe. Im Nachwort zu Eine souveräne Frau, Wohmanns schönsten Erzählungen, wird Magirius die neuartigen Überlegungen beispielhaft am Apfelstrudel niedergelegt haben. Ja, richtig: Momentan muss man sich mit dem Tempus Futur II begnügen, weil die Auswahl der schönsten ihrer mehr als 600 veröffentlichten Erzählungen im Mai 2012 im Berliner Aufbau Verlag unter dem Lektorat von Dr. Angela Drescher erschienen sein wird. Doch jetzt am 11.11.11 in Biebesheim, da wird in exzentrischer Vorwegnahme die neue Methodik überprüft. Das Futur ist aufgehoben! Und man feiert das Präsens. Und auch die Präsenz dessen, worum es geht: nämlich um Leibspeisen als Annäherung ans Unsagbare, das Wohmann in ihren Werken berührt.
Aufsässigkeit und Liebe
Wovon ist die Rede? Vom Geschmack des im Jammer aufleuchtenden ganz Anderen, das viele Namen trägt: Es geht um die Aufsässigkeit einer Autorin, die Waldenser als Vorfahren hat, ein aus reiner Kindlichkeit dem Guten Verpflichteten. Das alles ist wiederum nichts anderes als Liebe nach der Weise des Korintherbriefs: Sie hört nicht auf, regt sich auf und widersetzt sich einer Empfindungslosigkeit, wie sie vielen forsch und munter auftretenden Zeitgenossen eigen ist.
Volksfest im heiligen Raum
Die Hospizbewegung im Ried unter Leitung von Mechthild Herold ist diesem literarisch-religiösen Epiphanie-Gedanken auf die Spur gekommen. Vor der Lesung näherten sich Landfrauen dem Schlüssel zu Gabriele Wohmanns Werk nicht kognitiv, sondern mit einer nicht nur im symbolischen Sinne süß zu nennenden Emotionalität. Die Idee: Poesie als oral ausgerichtetes Volksfest im heiligen Raum. Wohmanns Literatur soll erfahrbar werden – ganz ohne Berechtigungsschein für ein literaturwissenschaftliches Doktorandenseminar.
Landfrauen lesen Wohmann
Die Erzählungen “Wann kommt die Liebe” (2010) haben die Landfrauen zum Backen von Vanillekringel inspiriert. Der Erzählband “Schwestern” (1999) brachte Ingwerbiskuits hervor. Im autobiographisch geprägten Roman “Abschied von der Schwester” (2001) erzählt die Autorin, wie es einer Abgeordneten des Pendoverlages aus Zürich gelingt, sie mit Pralinen an den Verlag zu binden. Also haben die Landfrauen auch raffinierte Schokoladenkugeln geformt. Und es ist Apfelkuchen entstanden – gedeckt und ungedeckt, jene Art von Poesie, die Gabriele Wohmann in ihrem Buch “Sterben ist Mist, der Tod aber schön” (2011) entfaltet.
Gott im Apfelkuchen?
Aber kann sich die Sehnsucht nach Himmlischem so konkret ereignen? “Biblisch-exegetisch ist das abgesichert”, sagt Herausgeber Magirius. Da sei etwa die Methapherntheorie Paul Ricoeurs, die der französische Philosoph nicht zuletzt aus der Gleichnisrede Jesu heraus entwickelt habe. Und weiter philsophieren Wohmann und Magirius in der Biebesheimer Kirche über Kuchen und Küche, was wiederum an die Symboltheorie des Theologen und Philosophen Paul Tillich erinnert, in dessen Terminologie sich fragen lässt: Ist Apfelkuchen ein Symbol – und zu unterscheiden von einem Zeichen, trägt also der Apfelkuchen als Symbol in sich einen Anteil von jener Tiefe des Seins, worauf er verweist? Beantwortet man diese Frage positiv, bedeutet das: Gott besucht den Menschen im Apfelkuchen.
Das Erschrecken
So spricht man weiter gelassen und – wie eingangs angekündigt – unaufgeregt dahin. Aber dann: Das Sterben. Zu ahnen ist dann doch eine Gefühlsbewegung in einem heiligen Raum, den der Religionswissenschaftler Rudolf Otto als etwas beschreibt, in dem das Zittern sein darf, ohne dass man sich dafür entschuldigen müsste. Denn ein Entschuldigen angesichts der Urgefahr ist nicht nötig, schließlich handelt es sich bei der Begegnung mit dem Heiligen ohnehin um ein nicht steuerbares Aufschrecken, mag man auch noch so sehr eine Entemotionalisierung anstreben.
Mehr Salz!
Und das Gerücht von der Unaufgeregtheit? Fort! Aber das Erschrecken erobert nicht den Abend. Denn da ist Widerstand, nämlich Staunen, Freude und Überraschung. Wohmanns Himmelsträume sind in Pappkisten gelegt: Plätzchen, Kuchen, Pralinen. So sind ihre unsystematischen, weil literarischen Arbeiten zur Eschatologie also real geworden. Aber auch das ist nur ein Anfang. Denn nicht allein Vanille, Apfelkuchen oder der von Wohmann weltgeschichtlich erstmals so bezeichnete “barmherzige Käsekuchen” können aufs Himmlische verweisen. Sondern ebenso das Gegenteil: “Das Salzige darf nicht fehlen!”, sagt sie. Womit Magirius’ exzentrisch neuer Wohmann-Forschungsneuansatz durch die Autorin höchstpersönlich schon wieder widerlegt ist. Das allerdings ist nur der Auftakt zu weiteren Forschungsgenüssen. Also: Theologinnen, Germanisten, Landfrauen und Hausmänner vereinigt euch! Denn: Wohmanns Werk “‘Das Salz, bitte!'” (1992) harrt der Analyse.
Das Buch “Sterben ist Mist, der Tod aber schön”
Gabriele Wohmann und Georg Magirius haben das Buch “Sterben ist Mist, der Tod aber schön” im Kreuz-Verlag veröffentlicht. Das Buch mit dem Untertitel “Träume vom Himmel” hat Rolf Hartmann lektoriert. Es ist gebunden, hat 120 Seiten und kostet 14 Euro 95. Die ISBN-Nummer lautet 978-3-451-33692-8. Weitere Informationen, Pressestimmen und Bestellmöglichkeit sind hier. Die Fotos der Lesung stammen von der Fotografin Annika Schulz. Die Rechte an den Fotos liegen bei der Heilspraxis Magirius.