Religion und Poesie
Stichwort Ekstase
Wie soll das möglich sein: In einen vibrierenden Überschwang geraten ohne Morphium, expressionistische Gedichte, Alkohol oder Schokoloade? Jörg Echtler (Foto) hat für die Evangelische Sonntags-Zeitung vom 29. Januar 2012 bei Georg Magirius nachgefragt. Ein Gespräch über Kirchenmusik, Reformation und Emotion, Psalmen, Wut und Schwärmerei – und den berüchtigten Zimbelklang. Das Gespräch “Stichwort Ekstase”ist hier. Die Redaktion hat übrigens Gert Buttler.
Das Interview “Stichwort Ekstase”
Gibt es ein Musikstück, von dem man spontan sagen kann: Das ist evangelisch? Der in musikalischen Fragen äußerst bewanderte Theologe, Schriftsteller und Journalist Georg Magirius findet das schon. Im Gespräch mit der Evangelischen Sonntags-Zeitung wendet er sich auch vielen anderen Aspekten der Kirchenmusik zu.
Jörg Echtler, Evangelische Sonntags-Zeitung: Gibt es ein Stück, von dem Sie sagen würden: diese Musik ist typisch evangelisch?
Georg Magirius: Luthers Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“. Das ist sozusagen die erste offizielle evangelische Musikgattung, ein Beispiel für den Psalmgesang, den Luther auch erfunden hat. Das war aus der Not geboren, weil er deutsche Lieder haben wollte, die auch die Gemeinde singen kann, und keine vorhanden waren. Die Erfindung beruht aber auf dem Alten, eben auf den zutiefst musikalischen Psalmen. Für Luther waren sie eine Kurzversion des Christentums.
ESZ: Die biblische Grundlage ist also ein wesentliches Element. Welche Musikalität verbirgt sich in den Urtexten?
Georg Magirius: Im ersten Psalm heißt es: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinen Weisungen Tag und Nacht“ – dieses Sinnen ist im Hebräischen ein Murmeln. Wenn man die Bibel liest, merkt man, dass ihre Sprache Rhythmus hat. Die Psalmen sagen: Singt zu Gott und sind selber schon Gesang. Ich glaube, dass eine religiöse Sprache, wenn sie berühren soll, immer eine klingende Sprache ist – eine schöne Sprache.
ESZ: Ein Klang, der also schon da ist, und Luther hat ihn einfach übertragen?
Georg Magirius: Das Hebräische hat tatsächlich einen ganz fantastischen Rhythmus. Kurze Sentenzen, viele Wiederholungen. Ein Deutschlehrer würde sagen: schlechter Stil. Das aber gerade ist das Lebendige und große Kunst. WEITERLESEN