Allgemein
Schlüssel zur Freiheit
Zum Allgemeingut sind Paul Tillichs Gedanken nicht geworden, auch wenn er als einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts gilt. Doch seine Theologie atmet bis heute den Geist der Freiheit. 1933 wurde er als erster nichtsemitischer Hochschullehrer in Deutschland abgesetzt und emigrierte nach Amerika. Georg Magirius stellt in seinem Beitrag “Schlüssel zur Freiheit” Paul Tillich und seine Theologie vor. Der Beitrag ist in der Evangelischen Zeitung vom 18. April 2013 veröffentlicht. Die Redaktion hat Sven Kriszio.
Der Beitrag “Schlüssel zur Freiheit”
Seine Theologie ist so eigenwillig und weit, dass sie bis heute den Geist der Freiheit atmet. Die Gedanken des Philosophen und Theologen Paul Tillichs werden durchforscht und diskutiert. Es gibt Anhänger, Interessierte und Tagungen. Zum Allgemeingut aber ist er nicht geworden, auch wenn er als einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts gilt. 1933 wurde er als erster nichtsemitischer Hochschullehrer in Deutschland abgesetzt und emigrierte nach Amerika. Er lehrte in New York und Chicago, wo auch seine dreibändige Systematische Theologie entstand.
Ohne Fragen keine Theologie
Seine Gedanken bestimmen heutige Predigten, Kirchentage oder Kirchenkonferenzen kaum. Er findet sich nicht in spirituellen Geschenkbänden oder Mutmachkalendern, was womöglich das größte Kompliment ist, dass man seiner Theologie machen kann: Heimisch ist sie nicht geworden. Denn ein Glaube, der sich gemütlich niederlässt, macht die Seele eng. Zweifel, Fragen und Verzweiflung? Ohne sie gibt es für Tillich keine Theologie. Die kirchlich-theologische Sprachmelodie, wie er sie erlebte, könne nicht heilen, meinte er. Ihr Fehler: Sie liefere Antworten. Nein! Das sei natürlich nicht falsch. Das Problem jedoch: Sie liefert Antworten auf Fragen, die die Menschen überhaupt nicht stellen.
Unendliche Leidenschaft
Man kann sich heute des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass sich das nicht grundlegend gewandelt hat, zumindest dort, wo man als Glaubens-Besitzer auftritt und beklagt: Kinder, Jugendliche, Alte oder wer auch immer – sie alle würden immer unkundiger und seien einfach nicht in der Lage, die passenden Fragen zu den doch vorliegenden Antworten zu stellen. Bei Tillich ist das anders. Jeder könne nur dann ein Glaubender sein, wenn er anerkennt, dass das Leben fraglich ist, der Mensch selbst Frage ist. Der Schmerz, der die Welt durchwühlt, lasse sich nicht ignorieren. Ein anderer Ausgangspunkt wäre ihm nicht ehrlich genug gewesen, der den ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern von Verdun erlebte. Theologie also ist kein Tresor, in dem Antworten unempfindlich gegenüber der Gegenwart lagern. Sondern? „Ein Gegenstand unendlicher Leidenschaft.“
Auch ein Nichtgläubiger kann gläubig sein
Dieser Theologe ist gelangweilt von jenen, die alles wissen oder zu wissen vorgeben. Für Tillich kann auch ein Nichtgläubiger gläubig sein, indem er sich mitreißen lässt von dem, „was ihn unbedingt angeht“. Die religiöse Trennungslinie läuft also nicht zwischen Christen und Nichtchristen, sondern zwischen den Selbstsicheren und den Unruhigen, zwischen den Gleichgültigen und den Sehnsüchtigen, zwischen Zufriedenen und Zweifelnden, zwischen denen, die fragen, und denen, die nicht mehr fragen.
Der Schlüssel zur Freiheit für jede organisierte Form von Religiosität
Es überrascht kaum, dass solche Gedanken innerhalb der Kirchen keine allzu große Verbreitung finden, die oft damit beschäftigt sind, Prozesse zu organisieren, um als Organisation bestehen zu bleiben. Wenn aber Tillich zufolge zweifelnde Nichtkirchensteuerzahler christlicher als zufriedene Kirchensteuerzahler sein können, dann ist das natürlich etwas zu viel Weite für jede organisierte Form von Religiosität. Der Provokation aber noch nicht genug: So gut wie jede wissenschaftliche Proseminararbeit hat heute mehr Anmerkungen als Tillichs etwa 1000-seitige Systematische Theologie. Eingängig liest sie sich trotzdem nicht. Sie ist und klingt anders als alles, was es sonst auf diesem Gebiet gibt – bis heute.
Vernunft – kein Schimpfwort des Glaubens
Woher kommt diese Einzigartigkeit? Es könnte daran liegen, dass er sich von einer Scheu leiten lässt, die sich letztlich dann doch wieder nur mit dem altüberlieferten Wort fromm bezeichnen lässt. Scheu aber wovor? Vor dem Unbenennbaren. So bremst er den Klang bekannter, ihm abgenutzt erscheinender Begriffe wie Sünde, Gott, Erlösung und verfremdet sie. Worauf sie verweisen, will er neu zum Durchbruch verhelfen – immer den Menschen heute im Blick, der ein Fragender ist.
Vernunft – das ist kein Schimpfwort des Glaubens. Tillichs Theologie will den Glauben fürs Denken öffnen. Von ihm verwendete, philosophisch inspirierte Begriffe wie Essenz, Existenz oder neues Sein klingen fremd. Mit Absicht. Sie sperren sich dagegen, mit dem Fragen gleich wieder aufzuhören.
Die Spur des Ewigen in Malerei, Tanz und Sex
Glaube, Gott und Kirche – sie lassen sich überall entdecken. So könne jedes Ding prinzipiell auf das, was uns unbedingt angeht, verweisen. Nichts sei auf der Welt also zu banal, um nicht eine Spur des Ewigen in sich tragen zu können. Malerei, Philosophie, Naturwissenschaft, Literatur, Tanz, Psychologie, Sexualität – das sei nichts Vorläufiges oder Unchristliches. Einen alle Grenzen überschreitenden Rausch könne man überall erfahren, nicht nur beim Abendmahl. Das vielleicht Unglaublichste an Tillichs Theologie jedoch: Der Glaube ist das Ende jener Gefangenschaft, die den Menschen klein und hörig macht, indem sie ihm im moralischen Sinn unaufhörlich Schuld einredet. Was ist der Mensch dann? Entfremdet, ein verwundbares und verwundetes Wesen. Viel zu würdevoll, erbarmungswürdig und groß, um ein Fall für Strafe oder wie auch immer geartete Resozialisie-rungsprogramme zu sein. Im Zentrum stattdessen: Dass der Mensch Heilung findet.