Biblisches

Laudatio auf eine Motte

Die Motte treibt ihr Wesen nicht nur in der berühmten Bergpredigt, sondern auch in Müslipackungen. Zum Beispiel in einer Wohngemeinschaft, in der vier Menschen zusammen leben. Und zwar ohne Trauschein. Davon schreibt der Theologe und Schriftsteller Georg Magirius in seinem Beitrag “Laudatio auf eine Motte” der Zeitschrift Sonntagsgruß vom 6. Oktober 2013. In der im Gütersloher Verlagshaus verlegten Zeitschrift widmet sich Magirius dieser wichtigen Persönlichkeit, die in der theologischen Wissenschaft allerdings nicht immer die Aufmerksamkeit erfahren habe, die ihr gebühre. Die Redaktion hat Monika Hovell.

Der Beitrag “Laudiatio auf eine Motte”

Das erste Mal in meinem Leben kam ich mit Motten in Kontakt, als ich sie gar nicht sah. Nur ihre Spuren. Ein Aufschrei kam aus der Küche, der die gesamte Wohnung durchdrang. Diese Tiere hatten das Müsli verwandelt. Es war ein sehr Kostbares jener Marke, die man in der Fernseh- oder Radiowerbung mit einer männlichen, gleichwohl sehr sanften und schwäbischen Dialektstimme angepriesen bekam. Das Teuerste im ganzen Supermarktregal! Schätze waren durch die Klarsichtfolie zu sehen: Früchte, getrocknet, groß. Die Erdbeere war nicht zerstückelt und noch wahrhaft rot. Nun aber war das Müsli voller Fäden. Und nicht nur das Müsli. Die Motten hatten ihre Spuren auch im Mehl hinterlassen. Und nicht nur das.

Drama in der Küche

Sie leben hoffentlich in einer bestens kontrollierten Küche und haben solch ein Drama noch nie erleiden müssen. Falls ein Leser so etwas aber doch schon einmal erlebt haben sollte, wird er bestätigen können: Schnell landet man in diesem Fall beim Thema Schuld. Das ist überhaupt nicht angenehm, weil nach raschem Austausch der Argumente in der Regel immer der andere der Schuldige, Schmutzförderer und angebliche Freund und Sympathisant dieser Tiere ist. In den Augen der anderen ist man das dann also selbst. So gilt es, die Argumentation zu übernehmen und herumzudrehen. Und immer so weiter. Man kennt das zum Beispiel aus Ehekomödien. Und manche auch direkt aus der Ehe. Zum Glück hatten wir, die wir damals zu Studienzwecken in der Wohnung zusammenlebten (vier Menschen ohne Trauschein), einen Ausweg. Er lautete: „Manchmal sind die Produkte bereits im Supermarkt mit Motten befallen.“

Das philosophische Mottengesetz

Große Erleichterung! So war nämlich niemand von uns schuld, sondern diese Tiere, deren Einfluss selbst in Gebiete reicht, die mit der Silbe „Super“ versehen sind. Warum hat einst Noah sie damals eigentlich mit in die Arche mitgenommen? Sie können so gut wie alles: Nicht nur dem Müsli oder dem Mehl etwas hinzufügen, was dann furchtbares Schreien zur Folge hat, sie können auch etwas nehmen: Zum Beispiel den Kleidern. Vielleicht sind sie die ideale Illustration für das, was der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert den Zusammenfall der Gegensätze nannte? Motten sind nämlich Minderer und Mehrer zugleich. Und jedes Mal machen sie etwas kaputt, an dem man oft von ganzem Herzen hängt.

Meine Lieblingshose soll nicht fragmentarisch sein

Jesus sagte einmal: „Sammelt euch Schätze im Himmel, wo sie nicht von Motten gefressen werden.“ Da hat er recht, wenn ich an mein teures Müsli von damals denke und an so manches Kleidungsstück. Schätze sammeln dort, wo die Motte, keine Macht mehr hat? Das wäre es! Schade ist es aber doch um dieses nahezu noch unangebrochene Müsli, um das ich noch immer trauere, wenn ich jetzt daran denke: Am liebsten würde ich es mit seinen Früchten sofort essen (natürlich ohne Mottenfäden). Schade auch um so manches Lieblingskleidungsstück, das mit einem winzigen Loch vernichtet wurde. Da hilft mir auch nicht, wenn manche Leute sagen: Nichts ist vollkommen, das Leben ist stets fragmentarisch. Nein, meine Lieblingshose soll nicht fragmentarisch sein, sondern ganz und ohne Mottenloch.

Laudatio auf einen Schatz

Aber es gibt sie: Schätze, die irdisch sind und dennoch vor den Motten sicher: Das können zum Beispiel innere Bilder, Träume, wunderbare Erinnerungen sein, an denen das Herz hängt. Jesu Satz, den Blick zum himmlischen Tresor zu richten, hilft, diese Schätze zu hüten. Für mich gehört dazu die Erinnerung, wie ich mit meiner Freundin zu Tisch saß. Und aß. Es war in keinem Festsaal, sondern in einer ziemlich banalen Küche. Aber mit Blick mitten in den Wald, der vor dem Küchenfenster begann. Ich war schwer verliebt – und das sogar über Jahre, auch wenn Forscher sagen, dass der Zustand der Verliebtheit allenfalls ein Jahr anhalten kann. Vermutlich gibt es da so eine Art Spezial-Motte, die die Verliebtheitsmoleküle gewöhnlich nach einem Jahr wegfrisst. Unsere Verliebtheit hatte die Motte aber übersehen. Sie und ich, wir waren gleich alt: acht. Und wir aßen Müsli mit Haferflocken jener Marke, die es noch heute gibt, aber nicht mit schwäbischer Stimme angepriesen wird. Ohne Früchte war dies Müsli – oder doch: Dunkle Rosinen lagen zwischen den groben Flocken. Dazu Milch. Und meine Freundin eröffnete das Spiel: „Wir sind jetzt im Gefängnis! Und müssen diese Pampe essen.“ Sie schmeckte köstlich. Manchmal kann ein Gefängnis der Himmel sein.