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Gemeinsam, aber nicht im Gleichschritt: Inklusion
Inklusion ist ein Thema, bei dem sich wohl alle einig sind: Behinderte sollen nicht abgesondert, sondern mit Nicht-Behinderten zum Beispiel gemeinsam unterrichtet werden. Das ist wenigstens der Konsens unter denen, die für eine entschieden sozial ausgerichtete Pädagogik eintreten. Der Theologe und Pädagoge Reiner Andreas Neuschäfer durchbricht in seinem Buch „Inklusion in religionspädagogischer Perspektive“ das Einvernehmen. Nein, er ist nicht für eine Separation von Behinderten. Seine These lautet aber: Wer Inklusion naiv und oberflächlich durchsetzen will, fördert Exklusion. Für ihn gilt stattdessen: Gemeinsam, aber nicht im Gleichschritt: Inklusion.
Mit Akribie, Fantasie und Furor
Der Autor informiert, erklärt, beleuchtet den Stand der Diskussion. Aber dieses mit Akribie verfasste Werk ist keiner krampfhaft kalt gehaltenen Wissenschaftlichkeit verpflichtet. Stattdessen handelt es sich um eine mit viel Nüchternheit, dann aber auch wieder mit Fantasie und Furor formulierte Einladung, nicht zwanghaft Ja zu etwas zu sagen, nur weil fast alle Ja sagen. Neuschäfer führt Beispiel um Beispiel an, welch amüsante oder auch gefährliche Auswirkung so manches Inklusion-Geplappere hat. Die gegenwärtige Praxis etwa geht von einer Obergrenze von drei bis vier Förderschülern pro Klasse aus. Warum genau diese Zahl und keine höhere?, fragt er. Nach Festlegung der Obergrenze gelte es, geeignete Kandidaten für diese Plätze zu nomininieren und damit unter Behinderten auszuwählen. Kommt dabei, fragt der Autor, nicht ein Behinderungs-Ranking ins Spiel?
Unsoziale Nebenwirkungen
Inklusions-Enthusiasten allerdings sehen solche eine Obergrenze als einen ersten Ausgangspunkt für den Fortschritt an. Wohin soll er führen? In eine bessere Welt, vermutet Neuschäfer. Gegen sie hat er nichts einzuwenden. Oder doch: Nämlich dann, wenn die sogenannte bessere Welt womöglich gar nicht so viel besser ist, weil das extrem durchgeführte Soziale mit einem Mal unsoziale Nebenwirkungen hat. Die Begeisterung der „Wir-sind-oder-werden-alle-eins“-Anhänger ist dem Realisten Neuschäfer unangenehm. Überraschend an seinem dem Realismus verpflichteten Widersprechen: Er gewinnt ihn aus einer Sphäre, die oft der Realitätsferne zugeordnet wird, nämlich der des christlichen Glaubens. Zum Menschen gehöre es, nicht nur mit Freude und Glück, sondern auch mit Leid zu leben, sagt er. Und zeigt das eindrücklich an Psalmen und Matthias-Claudius-Gedichten. Schmerz und Handicaps, Eigenarten und Besonderheiten lassen sich nicht zwanghaft eliminieren, nur damit recht bald die optimale irdische Existenz anbrechen kann. Das Leben sei vielmehr fragmentarisch.
Hindernisse sind normal
Hindernisse gehörten zum Leben und damit auch Behinderungen. So könne es durchaus erholsam sein, nicht jede Behinderung automatisch als besondere Begabung zu charakterisieren, wie das oft geschehe. Verbesserungen allerdings – das sei schon möglich, meint der Autor. Doch ehe diese sich wieder gleich als Illusion entpuppten, solle man erst einmal auf das schauen, was an Beiträgen zur Inklusion bereits vorhanden sei. Da gebe es etwa behindertengerechte Toiletten in Schulen, nur: Sie finden „nicht selten als Aufbewahrungsort für Reinigungsmittel, Fahrräder, Vorräte usw. Verwendung“. Und ja, natürlich sei auch die Idee einer barrierefreien Sprache nicht verkehrt. Nur warum dieses Prinzip nicht einmal in den schul-, gemeinde- oder sozialpädagogischen Zusammenhängen praktizieren? Dort pflege man ein milieuverliebtes Kauderwelsch, eine Barrieren fördernde Sprache. So sagt man Handout statt Arbeitsblatt, Team statt Gruppe oder Feedback statt Rückmeldung.
Das Alte pflegen
Was also? Ist der Autor nun für oder gegen Inklusion? Neuschäfer plädiert für sie, lässt sich aber nicht vom Vordergrund blenden. Denn er verfügt über das Können, Hintergründe auszuleuchten. So zeigen seine historischen Erkundungen, dass die mit dem Begriff Inklusion eingeführten Werte oftmals überhaupt nichts Neues sind, sondern eine Umbenennung von bekannten pädagogischen Ideen. Das erzieherisch Bewährte pflegen – das kann eine gute Form von Inklusion sein.
Gegen Konsenszwang und Aggression
Das Buch ist eine Warnung vor der in vielen Feldern zu entdeckenden missionarischen Attitüde, dass etwas einfach dadurch richtig wird, indem man ein anerkanntes Schlagwort ins Feld führt. Neuschäfer führt lieber nichts ins Feld, weil er – um in dem Sprachbild zu bleiben – nicht in den Krieg ziehen will. Aber er hat den Mut anzumerken: Wer immerzu auf Konsens setze, von dem könne eine Aggression ausgehen, die den Tarnanzug der guter Meinung trage. So fänden zum Beispiel jene, die Argumente für eine Existenz von Sonderschulen nicht verschweigen, in Symposien zum Thema gegenwärtig kaum Gehör. Damit praktizierten die entschiedenen „Inklusionisten“ kurioserweise einmal mehr Exklusion, weil sie Andersdenkende ignorierten, also gleichsam für behindert erklärten: Die seien doch noch nicht mal in der Lage, Ja zu den evidenten, allenfalls noch nuancenartig zu diskutierenden Positionen zu sagen, heißt es dann.
Von der Kraft des Unterschieds
Der Autor positioniert sich in die Mitte zwischen diesen Extremen, also dem übergroßen Hang zum Konsens einerseits, der dann urplötzlich ins andere Extrem umschlagen kann, in eine aggressiv-unkontrollierte Ignoranz. Er plädiert dafür, Unterschiede, Trennungen und Eigenheiten auszuhalten, um dadurch Verständigung zu lernen. “Inklusion in religionspädagogischer Perspektive” ist ein Gesprächsbeitrag, der auf konstruktive Weise unmodisch ist. Er stellt dar, wie es zu Diskriminierungen infolge eines unrefklektierten Humanisierungsideals kommen kann. Am Ende des Buches stellt der Autor kein Ideal. Sondern? Unterrichtsvorschläge und Anregungen, wie man gemeinsam lernen kann, ohne deswegen im Gleichschritt marschieren zu müssen.
Gemeinsam, aber nicht im Gleichschritt: Inklusion – das Buch
Reiner Andreas Neuschäfer hat das Buch “Inklusion in religionspädagogischer Perspektive – Annäherungen, Anfragen, Anregungen” in der Edition Paideia im Garamond Verlag. Und zwar in der in der von Michael Wermke herausgegebenen Reihe „Religionspädagogik im Diskurs“ (RPD) 13.