Biblisches

Mit 7 Minuten Verspätung ins Jüngste Gericht

Ans Jüngste Gericht glaubt heute so gut wie keiner mehr. Doch Situationen, in denen es gefährlich und dramatisch werden kann, gibt es genug. Was dann? Georg Magirius’ Antwort lautet “Nüchtern bleiben!” Oder anders gesagt: Wer zu spät zum Jüngsten Gericht kommt, hat nicht den schlechtesten Weg gewählt. Georg Magirius hat den Beitrag “Mit 7 Minuten Verspätung ins Jüngste Gericht” im Sonntagsgruß vom 17. August 2014 veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine Zeitschrift im Gütersloher Verlagshaus. Die Redaktion hat Monika Hovell.

Der Beitrag “Mit 7 Minuten Verspätung ins Jüngste Gericht”

Was genau ist ein Quantensprung? Es kann ein Lehrerwechsel sein. Ich habe das erlebt, es war wie der Eintritt in eine neue Dimension. Mein Klassenlehrer konnte begeistern! Vielleicht weil er selbst begeistert war. Gleich in einer der ersten Stunde des als bedeutungsschwer geltenden Fachs Latein entführte er uns mit Leichtigkeit in die ewige Stadt Rom, indem er uns Lichtbilder zeigte.

Schon bald schauten wir nicht mehr nur Bilder, sondern verließen den Klassensaal und spazierten durch die Stadt Mainz, in der die Römer viele Spuren hinterlassen haben. In kleinen Theaterstücken sprachen wir kurze Sätze auf Latein, obwohl wir erst ganz am Anfang waren. Aber da war auch noch die Verfügungsstunde! Ein pädagogisches Ereignis, eben eine Stunde, die zur freien Verfügung stand, also für andere Angelegenheiten, nicht für Latein. Wir sprachen über Respekt und Toleranz und waren stolz, unter der Schirmherrschaft dieses Fremdwortes zu diskutieren. Und wenn noch etwas Zeit war, durfte Schüler Bodo schon mal den Otto machen. Bodo war, wussten wir, sogar der eigentliche Otto Waalkes, treffender und wahrer als das vermeintliche Original. Elf Jahre alt war er, kannte und konnte jeden Otto-Sketch.

Munter wie ein Eisverkäufer

Alles war schön. Und wenn die Lateinarbeit zurückgegeben wurde, schrie unser Lehrer. Wie stets am Anfang der Stunde waren wir aufgestanden, um ihn zu grüßen. „Considete“, sagte er dann nicht, wie es der Ritus verlangte und was bedeutete, dass wir uns wieder setzen konnten. Er ließ uns stehen, wendete sich einzelnen zu, indem er sie laut beim Namen nannte, dazu die Note in einer Mischung aus Triumph und Abscheu ausspuckte. Das war kein Sketch, sondern Note sechs. Wie hätten wir ihm das nur antun können!? Alle unsere Noten summiert habe eine unvorstellbare Rekordzahl erreicht.

In der Verfügungsstunde sprachen wir dann nicht mehr über Themen wie Respekt, stattdessen wurde infolge unserer Respektlosigkeit ihm gegenüber ein „Straftraining Latein“ angesetzt. Das dürfte vergleichbar sein mit dem, womit „Quälix“ Felix Magath als Fußballtrainer Jahre später seine Schützlinge erfreute, wenn sie die Frechheit besessen hatten, deftig zu verlieren. Einen Tag später konnte der Phonzahl-Enthusiast schon wieder witzig und freundlich sein. „Wer mag übersetzen?“, fragte er, munter wie ein Eisverkäufer. Uns war da schon nicht mehr ganz so witzig zumute, da wir wussten: Wutanfälle sind nie ausgeschlossen.

Gelassenheit im Wald der Optative

Und dann? Drei Jahre älter geworden, bekamen wir einen neuen Klassenlehrer, der nicht begeisterte und nicht begeisternd war. Er wirkte nicht besonders munter, auch nicht hektisch. Mit steter Nüchternheit kam er zu spät, jedes Mal exakt sieben Minuten nach Anbruch der Stunde kam er zur Tür herein. Er blieb im Klassenraum, setzte uns also nicht auf die Spuren der Römer. Stattdessen lasen und übersetzten wir, das war nicht besonders.

Ungewöhnlich war höchstens das: Wir meldeten uns nicht, um die Mitarbeitsnote verbessern zu können. Sondern mal rief er den einen, mal den anderen auf. Das war keine Prüfung. Zur Aufregung bestand kaum ein Grund. Denn selbst wenn man nicht mehr weiterwusste, blieb der Lehrer ruhig. Allenfalls mit leichter Ironie kommentierte er die eine oder andere unserer Orientierungslosigkeiten im Wald der Optative, Imperative, von Irrealis und Futur II. Und in der Verfügungsstunde? Da wurde besprochen, worüber zu sprechen war. Mehr nicht.

Seid besonnen!

So ging alles seinen Gang. Und wenn es kein Abitur gegeben hätte, wäre es genau so und nicht anders bis zum Ende aller Tage weitergegangen. Und wäre damals tatsächlich das Ende aller Dinge angebrochen, hätte das nichts daran geändert, dass unser Lehrer zur Tür hereingekommen wäre – mit kaum merklichem Lächeln: exakt sieben Minuten nach Anbruch des Jüngsten Gerichts.

Aber was ist das alles im Vergleich zu jenen, die jederzeit in der Lage sind, ein Gefühlsfeuerwerk abzuschießen? Es bedeutet so gut wie nichts. Und doch, für mich war es ein Quantensprung. Ich geriet in eine Dimension, in der eine unumstößliche Gelassenheit zu Hause war. Sie spürte ich sogar besonders dann, wenn sonst kaum etwas sicher schien. Womöglich sind es Erfahrungen wie diese, die den Petrusbrief empfehlen lassen, weder überzuschnappen noch euphorisch zu beten, wenn es ans Ende geht: „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.“ (1. Petrus 4,7)