Stille
Erfüllung am Montagmorgen
Früher galt es als liberal, cool und frech, das Gebot der Sonntagsruhe zu unterwandern. Heute dagegen ist es ungehörig und mutig, am Sonntag oder überhaupt an irgendeinem Tag Ruhe zuzulassen. Das schreibt Georg Magirius in seinem Beitrag “Erfüllung am Montagmorgen”. Er hat ihn veröffentlicht im Sonntagsgruß, einer Zeitschrift im Gütersloher Verlagshaus, am 23. November 2014. Die Redaktion hat Monika Hovell.
Erfüllung am Montagmorgen: Der Beitrag von Georg Magirius
Kaum hat das Tageslicht am Morgen die Dunkelheit verscheucht, rumort es vor meinem Fenster. Wir befinden uns nämlich in einem Ort, der es weit gebracht hat. Wohin? Bis an die Autobahn. Nein, ich wohne nicht direkt an dem vierspurigen Asphaltband. Aber ein Schild unseres Ortes ist direkt am Autobahnrand postiert, wo es Reisende informiert: Hier lohnt es sich, mit dem Auto einmal abzubiegen. Was der Nobelpreis für Wissenschaftler ist, das ist für aufstiegswillige Kommunen solch ein braunes Schild an der Autobahn. In geschätzten 95 Prozent der Fälle führen diese Hinweisgeber zu Kleinstädten mit Fachwerkbauten.
Basilika und Parkdeck
So weit also haben wir es gebracht – bis zu einem Autobahnschild. Wer genau ist wir? Das sind die Bewohner von Seligenstadt am Main. Dort gibt eine Basilika, einen Klostergarten und ein Klostergartencafé. Der Sage nach hat dort Karl der Große einst seine verlorene Tochter Emma wiedergefunden. Kinder, die in Seligenstadt leben, heißen demnach Emma oder Karl. Nicht alle! Sonst ließen sie sich kaum auseinander halten, denn so klein ist das Städtchen nun auch wieder nicht. Es gibt überdies keinen kommunalen Erlass, der Eltern zwingt, ein weibliches Baby Emma zu nennen. Deswegen nennen sie es manchmal – Karla. Sie glauben mir nicht? Dann biegen doch auch Sie mal ab.
Am Wochenende allerdings, da wird es bei uns eng. Wenn jeder der vor meinem Fenster liegenden gebührenfreien Parkplätze ein passendes Auto gefunden hat, kommt das nahe Parkdeck ins Spiel. Auch das belegt unseren Bedeutungsanstieg. Eben noch grüßten von dort gelassen hohe Bäume, was würdig und beruhigend war. Nur kann damit keine Kleinstadt Pluspunkte in Sachen Tourismus sammeln.Und weil Gelder aus einem geheimnisumwitterten europäischen Fond nicht verfallen sollten, ließen wir beziehungsweise die von uns in geheimer und demokratischer Wahl ins Rathaus geschickten Fachwerkstadt-Vertreter die Bäume fällen. Das war eine extrem aktive Sterbehilfe. Aber nun auch nicht völlig unangemessen. Die Bäume hatten schließlich am Friedhof gewurzelt.
Für einen Euro darf das Auto ruhen – aber was ist mit den Menschen?
Jetzt hat der Friedhof statt Bäumen ein Parkdeck zum Nachbarn. So höre ich Autos nicht mehr nur parken, sondern sich in Richtung Parkdeck schlängeln. Für nicht mehr als einen Euro darf das Gefährt dort ruhen, einen ganzen Tag. Aber nicht nur Parkplätze und Fachwerkbalken haben eine magnetische Anziehungskraft. Da ist überdies die überregional bedeutsame Ostereierausstellung, mit der die Fastenzeit im Kloster beginnt. Nein, Langweiler sind wir nicht! Es gibt Weinfeste, Hochzeitsmessen, Frühlingsfeste, Mittelaltermärkte.
Geschäftige Sonntage
Gefeiert wird am liebsten an Sonntagen. Und weil dann so viele wie sonst nie da sind, öffnen die Geschäfte, sodass noch mehr Kleinstadtspazierer kommen. Längst vorbei die Zeiten, dass Menschen das Gebot der Sonntagsruhe zuweilen als Einschränkung erfuhren. Heute ist man an Sonntagen oft so geschäftig und unternehmungslustig wie an sechs Werktagen zusammen nicht. Aber warum? Weil viele sich vor einem Zuviel an Ruhe fürchten? Das leuchtet mir ein. Denn die Stille kann auf unruhige Weise mit dem Phänomen der Leere konfrontieren. Sollte man deshalb aber die Ruhe gleich vollkommen eliminieren?
Erfüllung am Montagmorgen
Im Hebräerbrief ist von einer Ruhe die Rede, die keine Angst machen will. Sie ist kein Gebot, kann gar nicht als Zwang erfahren werden, weil sie eine Hoffnung ist. Denn sie fehlt, heißt es da. Sie ist ein Versprechen für jene, die Ruhe erst noch finden wollen, weil sie sich nämlich in Unruhe befinden. Von dieser Hoffnung erlebe ich manchmal etwas am Montagmorgen. Das Parkdeck ist dann leer, ich atme auf. Selbst die gewöhnlichen Parkplätze vor meinem Fenster – verwaist! Es ist trüb, regnerisch und so still, dass ich eine Ahnung von jenem Frieden bekomme, von dem es im Hebräerbrief heißt: „Es ist aber noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes.“ (Hebräer 4,9)