Spirituelle Wanderungen

Tasse auf der Terrasse

Auf dem Tisch einer Caféterasse ist ein Stück Apfelkuchen mit Sahne zu sehen. Aber auch eine Tasse auf der Terrasse. Foto von Georg Magirius

Wie soll man es nennen? Schock, Kulturabbruch, Erosion eines urdeutschen Wertes, der doch für immer zu gelten schien? Diese, nennen wir es beim Namen, Abbruch einer nationalen Gewissheit zeigt sich bei der Wanderung der Reihe GangART unter Leitung von Georg Magirius gleich mehrfach. Wir schreiben den 8. September des Jahres 2018: Die Tagespilgerinnen und Spirituellen Wanderer sind an dem spätsommerlichen Tag aufgebrochen, um auf dem Weg von Miltenberg nach Amorbach im Odenwald neue Kräfte zu suchen. Aber dass sie den Geist der Veränderung gleich so dramatisch erfahren, dass ein grundlegendes Gesetz des Landes keinen Wert mehr zu haben scheint?

Die neue Freiheit schmeckt

All der Dramatik zum Trotz lassen die Bewegungsfreudigen sich auf das Neue ein. Sie klagen nicht und schlagen auch nichts und niemanden zu Bruch, nur um dadurch den vertrauten Status quo konservieren zu wollen. Noch mehr! Einige probieren sogar die Neuheit aus. Und? Die Welt geht nicht unter. Die ungewohnten Verhältnisse im Land sind sogar genießbar, die neue Sitte nämlich, sie lautet: Tasse auf der Terrasse. Denn im Café Schloßmühle in Amorbach, aber auch auf der Terrasse des Gasthauses „Zur Jägerruh“ in Monbrunn bei Miltenberg ist “Draußen nur Kännchen!”, das womöglich Heiligste Gebot deutscher Nation, aufgehoben.

Das erfrischend Gestrige

Gasthaus Jägerruh Monbrunn Miltenberg

Vielleicht ist die Gelassenheit der Wanderer dem Neuen gegenüber inspiriert von einem Segen, den Magirius mit auf den Weg in die Erneuerung gegeben hat: „Gott segne deinen nächsten Schritt, den Mut, dass sich etwas ändert. Und er ruhe in der Angst, dass sich alles ändern könnte.“ Die Kraft des Neuen und Ungewohnten ist aber nicht nur auf Café-Terrassen spürbar. Sie zeigt sich in vielem, das scheinbar gestrig ist. In Monbrunn etwa, wo es keine Durchgangsstraße gibt, ist es auf so unmoderne Weise still, dass die Pilger die Zeit vergessen. Statt der angedachten einen Stunde sitzen sie gleich zwei im Gasthaus. Dort wird Fichtennadel-Limonade ausgeschenkt.

Gerechtigkeit auf dem Teller

Und Wirtin Nicola Ripperger kennt sich bis ins Detail in ihrer Speisekarte aus. „Wie groß ist denn ein Grünkernbratling?“, wird gefragt. Antwort: „110 Gramm.“ „Wirklich 110 Gramm?“ „Es können auch 111 sein.“ Jedenfalls koche sie nicht im Namen der Ungerechtigkeit. So habe sie die Teigballen abgewogen, damit es zu Gleichheit und Gerechtigkeit auf den Tellern komme. Damit folgt sie Werten, denen man schon oft den Untergang vorausgesagt hat. Doch hat sie noch niemand dauerhaft vernichten können. Frisch und menschenfreundlich schmeckt die Rippergersche Interpretation von Gleichheit und Gerechtigkeit, zumal die grünen Kerne auf einem uralten Herd gebraten werden, der noch von Brennholz gespeist wird. Damit aber nicht genug des Neuartigen in Monbrunn, das im Alten gründet. Denn Schweine können ihren Stall verlassen und hüpfen im Freien herum.

Irren und Staunen

Hüpfende Schweine in Monbrunn - Foto von Georg Magirius

Allerdings ist die Suche nach Erneuerung nicht nur ein hüpfendes Vergnügen. Sie ist auch kein reiner Kaffeetassen-Terrassenspaß. Sie kennt Tücken. Denn soll man nach dem Durchschreiten des Schnatterlochs in Miltenberg einer Orientalin trauen, der Jüdin Maria, auf der Markierung des Fränkischen Marienwegs mit Kopftuch dargestellt? Oder doch besser dem Steig der Nibelungen, der an den vom Urgermanen Richard Wagner aufgegriffenen Mythos denken lässt? Oder beiden Wegen? Mal geht es an diesem Erneuerungstag da lang, dann wieder dort, auf einmal ein Stück zurück und dann auch noch einmal ganz woandershin, nämlich durch einen keltischen Ringwall. Doch der nicht penibel konsequente Weg steht unter einem Schutz, verspricht der Segen, der die Tour begleitet: „Gott segne und verwirre dich, gehe mit dir in die Irre, er lasse dir den Irrtum, nicht für immer wirst du irren. Gott schenke dir den Weg des Staunens.“

Migration

Nur wie genau kann man denn nun dieses Staunen und die Kraft zur Erneuerung erfahren? Schließlich gibt es genug Gründe, immer wieder ins Zweifeln zu kommen, dass das Leben einen Fortgang kennt. Der Bach, der gewöhnlich auf dem Weg nach Reuenthal bergab springt, ist stumm. Und auf dem Greinberg liegt das Waldgras erschöpft, wie tot am Boden nach einem Sommer, der kaum andere Ausdrucksformen als Trockenheit und Hitze kannte. Doch unverfroren jung ist das Grün, das sich aus dem zu Boden geworfenen Gras vorwagt. Und wer ist es, der die Kraft dieses Grüns schauen und erfahren kann? Antwort: Der Mensch, der womöglich gar nicht so sehr viel macht und schaffen kann, aber weitergeht – und das Leben als Migration versteht.

Auf dem Gotthard bei Amorbach - Foto von Georg Magirius

Die Reihe GangART

Die Reihe GangART ist eine fortlaufende Reihe von Spirituellen Tageswanderungen durch Rhön, Odenwald, Taunus, Schwarzwald, Spessart, Steigerwald, Haßberge und Fränkischem Weinland. Der Segen der Tour von Miltenberg nach Amorbach entstammt dem bei Herder veröffentlichten Pilgerbuch „Schritt für Schritt zum Horizont“ von Georg Magirius. Informationen zu aktuellen Touren sind hier.