Spirituelle Wanderungen
Ausweg aus dem Sonnenkult
Eine Spirituelle Wanderung unter dem Motto „Die Blüte des Einfachen“ kann den Verdacht der Scharlatanerie erwecken. Dass nämlich das Leben inklusive seiner nicht vorherzusehenden Havarien mit Hilfe einer esoterischen Vereinfachungsverdummung klein geredet wird. Und jeder, der es wagt, mit seinem Fragen noch immer an kein Ende gekommen zu sein, erhält den sanft gesprochenen (und gerade dadurch aggressiven) Hinweis, sich endlich einmal auf die Einfachheit des Lebens wirklich einzulassen. Trotz potenzieller Verdachtsmomente dieser Art hatten sich 20 Pilgerinnen und Pilger für die unter diesem blühenden Einfachheits-Motto stehenden Tagestour der Reihe GangART anmgeldet. Sie kamen aus Neu-Anspach, Hainburg, Frankfurt, Seligenstadt, Bad Homburg, Mainhausen, Wehrheim, Froschhausen, Gießen und Usingen. Und so ging es im Mai des Jahres 2019 unter Leitung von Georg Magirius los, es war der Ausweg aus dem Sonnenkult.
Unüberdacht
Der Hinweis, sich aufs Leben einzulassen, wurde durchweg weggelassen. Auch wurde auf dem Elisabethpfad von Usingen-Eschbach nach Brandoberndorf nicht der Rat ausgegeben, tief nach innen zu gehen. Der Schlüssel zu der rauschenden Erfahrung des Tages bestand stattdessen darin, nach draußen zu gehen. Das mag auf dämliche Weise gewöhnlich klingen, ist aber allein schon deshalb nicht selbstverständlich, weil Tourismusexperten infolge des aktuellen Wanderbooms gewiss schon daran tüfteln, Touren mit durchgängiger Überdachung anzubieten. Doch die spirituellen Geher im Hintertaunus spazierten vier Stunden unüberdacht im Regen. Niemand erlitt einen Dachschaden. Kein Ziegel fiel herunter, dafür aber Wasser.
Regenreich
Wobei Regen nicht gleich Regen ist, lautete die Erkenntnis, die sich anfühlte, als wäre es das erste Mal. Da gibt es das heftige Prasseln, den intensiven Fadenregen, die voluminöse Schüttung oder auch ein Wasserstreicheln auf der Haut, das so zart ist, dass es nur zeitverzögert spürbar ist, nämlich dann, wenn es verschwunden ist: eine nachfühlbare Erinnerung. Dieser Regenreichtum wiederum geht nicht zählbar viele Kombinationen mit dem Wind ein. Wozu auch Böen gehören, die einen unvorhersagbaren Rhythmus pflegen. Und dann ist da auch noch das Wasser, das der Regen als Rinnsale auf den Wegen hinterlässt. Oder als Wiesenkissen, über das der Fuß weich wie sonst selten geht.
Leuchtend
Und selbst alle diese Wind-Regen-Kombinationen sind noch nicht das Ende des Reichtums eines Regentages. Denn nur wer den Mut hat, den fanatischen Monotheismus der Sonnenanbeter zu unterlaufen und eimal in einen feuchten Wald hineinzulaufen, kann die Grüntöne des Frühlings auf eine Weise leuchten sehen, wie es kein Sonnentag hervorbringt. Und dabei ist von der Luft noch nicht die Rede, die sich atmen lässt, als habe die Welt für einen ewig wirkenden Augenblick jede Schwere abgelegt.
Euphorisch
Wer schon einmal länger im Regen gestanden ist, wird nicht so zu tun, als ob Wasser nicht gefährlich werden könnte. Doch wer schon einmal im Regen stand und dann aus welchem Grund auch immer die Gelegenheit erhält im Regen zu gehen, kann eine Erfahrung machen, die auf erschütternde Weise euphorisiert. Und das vermutlich einfach deshalb, weil man antrainiert bekommen hat, sich unaufhörlich gegen die Möglichkeit solch einer Erfahrung abzusichern. Geht man dann aber doch über mehrere Stunden durch einen langmütig fallenden Regen, wirkt die Welt auf den Kopf gestellt: Das Wasser fließt deshalb nicht nach oben. Aber man hört irgendwann auf, den Regen als Gegner wahrzunehmen.
Normal
Ist solch eine Wahrnehmung esoterisch, spirituell oder einer durchschnittlich ausgeprägten Aufmerksamkeit geschuldet? Handelt es sich um höhere Mathematik, eine undurchdringlich komplizierte Geheimwissenschaft? Ist genau das die Blüte des Einfachen? Womöglich ist es eine Form von Normalität, die so ungeheuerlich gewöhnlich ist, dass sie unvergleichlich erfrischend ist. Und unwiederholbar und unnachahmlich – nicht zuletzt deshalb, weil kein Touristikunternehmen in den kommenden Jahren auf die Idee kommen wird, eine Regenwanderung auf menschenleeren Wegen durch den Hintertaunus ins Programm zu nehmen.
Die Reihe GangART
Georg Magirius leitet in der Reihe GangART seit 2009 Spirituelle Tagestouren, in denen man einen längeren Abschnitt schweigend geht. Zum Thema hat Georg Magirius im Herder Verlag das Buch “Stille erfahren” herausgegeben. Und zwar mit Beiträgen von Arnold Stadler, Bernardin Schellenberger, Ann-Kristin Rink, Georg Magirius, Uwe Kolbe, Manuela Fuelle und Amet Bick. Dr. Esther Schulz und Jochen Fähndrich haben das Buch lektoriert. Informationen zu aktuellen Touren der Reihe sind hier.