Franken
Entlegene spirituelle Orte
Georg Magirius hat die folgende Reportage “Über die grüne Grenze” in “Der Sonntag” (Sachsen) vom 6. Juni 2021 veröffentlicht. Der Redakteur Stefan Seidel stellt sie innerhalb des Dossiers “Hinaus ins Freie” als Anregung für ein neues Reisen vor. In Zeiten von Viren und Klimawandel wächst das Interesse an einem Aufbruch, der mit weniger Reisestress und Ruhe verbunden ist. Dadurch ist laut Seidel eine Annäherung an fast exotische, entlegene spirituelle Orte möglich. Nur befänden diese sich in der Nähe. Ein Reisen, wie es für den spirituellen Wanderer Georg Magirius typisch sei.
War hier schon mal ein Tourist? Der Ort steht gewiss in keinem Reiseführer. Und doch wirkt er auf mich beispiellos. Dabei ist es nur ein kleines Gewässer unterhalb des Waldweges, der mich zur ehemals deutsch-deutschen Grenze führt. Der Waldteich bei Irmelshausen im Grabfeld ist für nichts da, kein Angelteich, kein Weiher zum Schwimmen. Das Gewässer ist auch keine Natursensation, zu der ein Bohlenweg führt. Dafür erscheint mir der Regen als Sensation, der auf der Wasserfläche Kreise hinterlässt. Und die Wasservögel haben ihre Ruhe, denn kein Wanderweg führt an dem Teich vorbei. Ende der Welt nennen manche Bewohner das Milztal, in dem ich mich befinde. Aber weil die Erde rund sei, fügen sie hinzu, handle es sich gleichermaßen auch um den Anfang der Welt.
Die Mitte der Verkehrsgesellschaft
Über das Jahr verteilt reise ich zu entlegenen Ort, immer für einen Tag von Frankfurt aus mit Bahn, Bus und zu Fuß. Aber ob ich so das Grüne Band erreiche, die thüringisch-fränkische Grenze? Tatsächlich zeigt mir der Computer Verbindungen an. Kurios: Nehme ich bis Würzburg einen frühen ICE, reise ich dank Sparpreis viel günstiger als mit Nahverkehrszügen, bin aber trotz Schnellzug länger unterwegs. Noch in der Nacht nehme ich den ICE und bin bereits am frühen Morgen in Neustadt an der Saale. Die lange Wartezeit vertreibe ich mir, um vom Bahnhof durch die Stadt zum Busbahnhof zu schlendern. Und erlebe dabei weder Anfang noch Ende der Welt, sondern die Mitte der Verkehrsgesellschaft: Der Weg führt an einer heftig rumorenden Bundessstraße vorbei.
Verschachtelte Dorfstraßen
„Wollen Sie nach Königshofen?“, fragt mich ein Mann am Busbahnhof. „Steigen Sie doch bei mir ein!“ Gewöhnlich spricht ein Fahrgast den Busfahrer an. Hier ist es offenbar schon mal umgekehrt. Erleichtert verlasse ich den Platz unter dem futuristischen Dach des Busbahnhofs, das so hoch ist, dass man dem Regen schon bei dem geringstem Anzeichen von Wind schutzlos ausgesetzt ist. „Vier Mal bin ich die Strecke heute schon gefahren, immer allein“, sagt der Busfahrer. Gerade sei eine zweite Linie zwischen Bad Neustadt und Bad Königshofen eingeführt worden. „Nur wissen das die Leute noch nicht.“ Beruhigend und aufregend zugleich wirkt die Reise. Die Dorfstraßen im Milztal sind oftmals verschachtelt, sodass der Fahrer sein Steuergeschick vorführen kann. Er erzählt so anschaulich von der Gegend, dass bereits in Irmelshausen aussteige, früher als geplant. „Da gibt es noch Grenztürme!“ Und an der Grenze entlang könne ich beliebig weit gehen. Der Rufbus greife mich dann schon auf. Und er gibt mir die Mobilnummer des Kollegen.
Eine der schönsten Wasserburgen Frankens
Auch das Schloss von Irmelshausen hat mich vorzeitig aus dem Bus gelockt. Manchen gilt es als schönste Wasserburg Frankens. Doch nur selten lässt sich das Innere besichtigen. Denn es ist bewohnt, und das schon seit seinen Anfängen. Der Nachteil ist auch ein Vorteil: Das Schloss ist vollständig erhalten. Zur Hälfte gehört es der Familie von Karl Graf Stauffenberg, einem Enkel des Hitlerattentäters. In Spaziernähe vom Schloss gibt es einen Badesee, der sich aus mehreren Quellen speist. Weil es nieselt, gehe ich lieber gleich zur Grenze durch den Wald. Dort entdecke ich den Teich. Kurz danach trete ich aus dem Wald heraus: Wo der Eiserne Vorhang einst zwei politische Systeme trennte, markieren heute Bäume die Grenze. Stacheldraht und Selbstschussanlagen sind verschwunden. An den Bäumen entlang verläuft jedoch noch immer der Kolonnenweg, den die Fahrzeuge der Nationalen Volksarmee nutzten.
1400 Kilometer lang schlängelt sich das Band durch Deutschland
Auf den Platten kann man dem Grünen Band folgen, der längsten Biotopkette Europas. Zu sehr ins Grün sollte man sich aber nicht begeben: So schützt man Pflanzen und Tiere, viele seltene Arten – und auch sich selbst: denn nicht alle Todesminen konnten beseitigt werden. Fast 1400 Kilometern lang schlängelt sich das Band durch Deutschland, zwischen 50 und 200 Meter ist es breit. Nach der Grenzöffnung wurden 200 Kilometer umgepflügt oder asphaltiert. Dennoch verbindet es auf außergewöhnliche Art Altgrasfluren, versteckte Waldparadiese und blühende Heiden mit abgeschiedenen Feuchtgebieten und Bachläufen. 130 Vogelarten wurden festgestellt, von denen fast die Hälfte auf der Roten Liste steht. Ähnlich verhält es sich mit Libellen und Pflanzen. Hier lebt auch die gefährdete Wanstschrecke, die nicht fliegen kann, weil sie tatsächlich einen Wanst hat.
Spirituelle Schulung
Am Horizont sehe ich die Grenztürme von Irmelshausen. Wo einst Soldaten wachten, leben jetzt Fledermäuse. Denn ein Turm wurde mit Nistkästen versehen. Braunkehlchen, Blaukehlchen und Schwarzkehlchen leben im Milzgrund – eine seltene Kombination. Ich folge dem Kolonnenweg südwärts. Umständlich ist der Verlauf des Weges, manchmal fast eckig und voller Schleifen. Sein touristischer Nutzwert ist nicht hoch. Aber ich erlebe etwas, was sich wie eine spirituelle Schulung anfühlt. Denn wer diesem Weg folgt, erlebt nicht im möglichst kurzer Zeit möglich viel. Geduldig hat man sich seinem Lauf zu fügen. Aber seltsam! Gerade dieser Verzicht darauf, effektiv vorwärtszukommen, führt mich in eine selten zuvor erlebte Gelassenheit. Und ich fühle mich ganz und gar frei: denn die Enge ist abgeschafft.
Weit öffnet sich der Blick
Weit öffnet sich der Blick ins Thüringische. Nirgendwo ein Wanderer, ich passiere nur Schafe und Kühe. Und genieße es, immer weiter auf dem Weg zu gehen, ohne dabei zu denken: Ich muss ja noch zurück zum Wanderparkplatz! Zu sehen sind die Gleichberge, zwei erloschene Vulkane, von denen einer wegen seiner exponierten Lage durch die Sowjets als Aufklärungsstandort genutzt wurde. Kurz vor Breitensee bricht der Weg vor einem Feld ab. Alles geht bei einer Tagesreise in entlegene Gefilde nicht glatt. Doch rasch finde ich einen Wirtschaftweg nach Breitensee. Wie eine fränkische Enklave ragt es ins Thüringische hinein, wo man allerdings ebenfalls Fränkisch spricht. Denn nicht auf Thüringisch, sondern auf Fränkisch erzählt mir der Busfahrer, der mich am Nachmittag zurück nach Neustadt bringt: Er sei in der DDR als Soldat auf den Gleichbergen gewesen. Alles war damals abgeriegelt, tausendfach gesichert. Und heute? Da könne jeder auf die Gleichberge hinauf wandern. Und schon reift in mir die Idee für ein neues Abenteuer in der Nähe.
Das Buch zur Reportage
Die Reportage ist angeregt von Recherchen für das Buch “Frankenliebe”. Die hier veröffentlichten Fotos stammen aus eben diesem Buch:
Georg Magirius Frankenliebe. 33 Orte zum Staunen und Verweilen
Mit vielen farbigen Abbildungen. 12 Euro – Echter Verlag – Würzburg 2020