Biblisches, Religion und Poesie
Die Geburt der Sehnsucht
Von einer Forschungsreise zum Ursprung der Sehnsucht berichtet Georg Magirius am 15. September 2021 im Deutschlandfunk in der Sendereihe “Am Sonntagmorgen”. Die Sendung mit dem Titel „Die Geburt der Sehnsucht“ ist inspiriert von den Büchern des Schriftstellers Arnold Stadler, insbesondere von seinem jüngsten Roman „Am siebten Tag flog ich zurück – Meine Reise zum Kilimandscharo“. Die Redaktion hat Frank-Michael Theuer. Das Tonstudio der Heilspraxis in Frankfurt am Main hat sie produziert. Den Beitrag jetzt lesen, die Sendung kostenfrei jetzt hören.
Die Grundmelodie der Sehnsucht
Magirius ist freilich nicht zum Kilimandscharo unterwegs, sondern zum Autor des Kilimandscharo-Romans. Arnold Stadler ist Träger des Büchnerpreises, der bedeutendsten literarischen Auszeichnung in Deutschland. Neben seinen Wohnorten in Sallahn im Wendland und in Berlin lebt er in dem kleinen Dorf Rast in Oberschwaben, wo er aufgewachsen ist und das in seinem Werk eine große Rolle spielt. Mag die Sehnsucht auch die Grundmelodie in Stadlers Werk sein, genießt sie nicht den allerbesten Ruf, sagt Magirius: „‘Ihr geht es doch um Unerreichbares‘, höre ich manchmal, wenn ich mich zu ihr bekenne. ‚Konzentrier dich besser auf das, was greifbar ist.‘“
Unterwegs zum Kibo
Solchen Warnhinweisen zum Trotz habe ihn Stadlers neuer Roman bei der Lektüre sofort mitgenommen. „Der Erzähler des Buchs, der seinem Autor zum Verwechseln ähnlich ist, reist für eine große Zeitung zu seinem Sehnsuchtsziel, das er als Kind unzählige Male gesehen hat. Als Bild in der großen Stube des elterlichen Hofes in Rast.“ Es ist ein Ölbild, gemalt von Fritz Lang: „Der Kibo“. Und der Kibo, das ist der Gipfel des Kilimandscharo.
“Die Elenden sollen essen”
Für die Romanfigur gibt es, seit er das Bild zum ersten Mal wahrgenommen hat, kein schöneres Ziel als diese Erhebung. Nun, Jahrzehnte später, ist der Erzähler zum Kilimandscharo unterwegs. Aber er strebt nicht wie andere Reisende schnurstracks mit dem Mountainbike zum Gipfel. Stattdessen reist er in vielen Schleifen zum Ziel. Er sieht Paradiesisches. Und erfährt Erschreckendes, das ihn zutiefst erschüttert, seine Hoffnung aber nur noch noch wachsen lässt. Sie ähnelt der Art und Weise, mit der der Knabenchor Hannover und das Collegium Vocale Gent unter Leitung von Gustav Leonhardt die Worte der Bachkantate “Die Elenden sollen essen” singt.
Arnold Stadler über Johann Sebastian Bach
Diese Hoffnung, dieses Ja-Sagen, das sehe ich, der ich ein musikalischer Mensch bin, ein Hörender, ganz und gar und unvergleichlich in Johann Sebastian Bach erklingen.
Ich höre jeden Tag Bach. Jeden Morgen. Und zwar nicht irgendwas, sondern aus den geistlichen Kantaten, die ja das Epizentrum, das Herzzentrum, der Bachschen Welt sind. Ich kann nur den Kopf schütteln über einen Musikwissenschaftler, den ich im Radio gehört habe, der behauptet hat: Über Bachs Religiosität könne man nix sagen – oder ob er überhaupt religiös war. Das ist doch, meine ich, ein armseliges Hinhören oder Darüberhinweghören.
Aber ich höre da heute: “Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden“, den Anfang der Kantate. Das ist für mich doppelt und dreifach und hundertfach eine ständige Quelle der inspirierenden Daseinsfreude. Bach hat häufig Psalmverse in seinen Kantaten. Nicht nur “Die Himmel rühmen die Ehre Gottes” oder so, sondern auch versteckt, wo es normale Gläubige oder Hörer schon gar nicht mehr wissen, wo es her kommt. “Die Elenden sollen essen” – das ist ein einziger Vers aus Psalm 22.
Für mich ist das ist eine Musik jenseits von Dur und Moll, auch der Kirchentonarten, aber er hat natürlich hauptsächlich in Dur und Moll komponiert: Es ist ein großes Erklingen. Mehr Ja ist für mich nicht möglich. – Arnold Stadler
Die Geburt der Sehnsucht
Der Erzähler im Roman erreicht sein Ziel. Und auch Magirius kommt auf den Spuren des Romanes weit. In der Nähe von Rast sieht er den Horizont, fast surreal eine Vielzahl schneebedeckter Alpengipfel wie an einer Kette aufgereiht. Für Stadler ist diese Aussicht der Geburtsort der Sehnsucht. “Da! Dort drüben”, habe man ihm als Kind gesagt: “Das ist der Säntis.” Und der Säntis, “das ist unser Kilimandscharo.” Mit einem Mal steht Magirius aber doch noch am Fuß des Kilimandscharo, des afrikanischen. Im elterlichen Hof des Schriftstellers sieht er den Kibo, das Ölbild von Fritz Lang. Und dieser Augenblick ist nun wieder so real, dass man fast den Eindruck haben könnte: Für einen Moment sei die Welt der Poesie und die vom Deutschlandfunk zertifizierte Verbreitung nützlicher Fakten in eins gefallen.
“Aufleben soll euer Herz für immer”
Außerdem ist da noch die Raster Kirche, in der Stadler als katholischer Ministrant bereits die biblischen Psalmen gehört, gebetet und aus ihnen gelebt hat. Und das lange bevor er das vielfach aufgelegte Buch „Die Menschen lügen. Alle“ verfasste. Dabei handelt es sich um eine Übertragung biblischer Psalmen, darunter Psalm 22, der mit den Worten beginnt: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen”. Das Lied aber geht weiter und mündet am Ende in die Worte: „Die Armen sollen essen und satt werden. Den Herrn sollen finden, die ihn suchen, und aufleben soll euer Herz für immer“.
Eine Wohnung in der Höhe
Schließlich führt die Reisebericht “Die Geburt der Sehnsucht” ins zerklüftete Tal der Jungen Donau, durch das der Fluss morgenschön mäandert. Vom Aussichtspunkt Knopfmacherfelsen kommt auf der anderen Seite des Tals eine Wohnung in der Höhe in den Blick, die nur scheinbar unerreichbar ist. Über das auf einem steil aufragende Felsen ruhende Gebäude sagt Stadler: „Ah, das ist schön da drüben, das Schloss Bronnen. Das glauben Sie nicht, wie toll das ist! Ganz klein übrigens, das ist nur so ein Haus. Und nen Garten hats. Und das ist alles.”
“Die Geburt der Sehnsucht” nachlesen und hören
Der Beitrag “Die Geburt der Sehnsucht” ist lesbar hier. Die Sendung kostenfrei hören hier. Arnold Stadlers Roman “Am siebten Tag flog ich zurück”, der Magirius’ Reise ausgelöst hat, ist im S. Fischer Verlag erschienen. Die ISBN-Nummer lautet 978-3-103-97250-4. Außerdem ist die Sendung angeregt von Arnold Stadlers Essay “Die Stille liebt den Möwenschrei. Brief an Georg Magirius”. Er ist in dem von Magirius im Herder Verlag herausgegebenen Band “Stille erfahren – Impulse für Meditation und Gottesdienst” veröffentlicht. Das Buch enthält neben Stadlers Beitrag Annäherungen an die Stille von Amet Bick, Manuela Fuelle, Uwe Kolbe, Georg Magirius, Ann-Kristin Rink und Bernardin Schellenberger. Die ISBN-Nummer lautet 978-3-451-4996-6.