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Das frische Werk des Alters

Das frische Werk des Alters - Gabriele Wohmann, Foto von Jule Kühn. Rechte: Georg Magirius

Am 21. Mai 2022 wäre Gabriele Wohmann 90 Jahre alt geworden. Und je mehr Jahre vergehen, da von der 2015 gestorbenen Autorin nichts mehr veröffentlicht wird, desto jugendlicher wirkt, was aktuell von ihr zu hören ist. Es ist das frische Werk des Alters.

Keine Frauenzeitschrift gelesen

Rückblende: Sender und Zeitungen feiern sie 2012, vor zehn Jahren, zu ihrem 80. Geburtstag als Meisterin der Short Story. Sie sei die Beste, die Königin der kurzen Prosa, heißt es in Medien, die nicht zu superlativischen Formulierungen neigen. Ihre Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, eine Menge Auszeichnungen hat sie erhalten. Über 60 Bücher allein mit Erzählungen hat sie veröffentlicht. Die Gesamtauflage ihrer Bücher liegt bei mehreren Millionen. Was erstaunlich ist, weil sie sich wenige Jahren zuvor weigerte, eine Autobiographie zu schreiben. Das hatte der Piper-Verlag freundlich erhofft mit der nicht ganz so freundlichen Bemerkung, dass andernfalls die Zusammenarbeit ende.

Ein Verlag hält Wort

Und der Verlag, ein Diener des Wortes, hielt sein Wort. Das aber ändert nichts daran, dass ihre Art, sich literarisch kurz zu fassen, in den Schulen als beispielhaft gilt. Allerdings gibt es, obwohl sie Jahr für Jahr Kinder und Jugendliche lesen, ein Problem für das Ringen um Aufmerksamkeit innerhalb der Kulturlandschaft. Sie ist eine Frau, wird 80 und ist damit zum Beispiel nicht mehr um die 30 wie damals, als sie ihre ersten Erzählungsbände veröffentlichte. Und dann gesteht sie in einer langen Geburtstagssendung ihr zu Ehren auf der Radiowelle hr 1, die sich nicht unbedingt Ausreißer im üblichen Meinungsspektrums leisten will: Sie habe in ihrem Leben noch keine einzige Frauenzeitschrift gelesen. Und wirkt selbst auf Nachfrage noch immer nicht zerknirscht, sondern höchst vergnügt wegen ihres angeblich so offensichtlichen Lebens- und Leseirrtums.

„Ach ja“ (plus Seufzen)

Trotz solcher Tabubrüche und Heiterkeitsanfälle, mit denen sie keine Quotenrekorde brechen kann, übt sie noch immer eine Faszination auf Männer aus, die die deutschsprachige Literaturszene schon Jahrzehnte begleiten. Die Faszination dieser Männer allerdings gilt eher der vergangenen Wohmann, weil diese frischer sei. So leiern nicht wenige Literaturbeurteilungsexperten, diese selbst – nun ja – nicht mehr rasend jungen Redakteure oder Professoren, ein wiederkehrendes Urteil herunter. Nämlich dass Wohmann auf ödeste Weise nicht mehr scharf und knapp schreibe wie die – ein “ach ja” (plus Seufzen) ist zu hören – einst junge Frau. Und was folgt daraus? Dass alles frisch Verfasste einer nicht verbitterten Autorin um die 80 aus Prinzip nichts gelten kann. Es sei abgestanden. Und ähm, übrigens, was machen wir mit gerade neu Verfasstem von Männern wie Siegfried Lenz, Peter Härtling oder Dieter Wellershoff? Nun, sagen die manche Sendeminute bestückenden Literaturprofis, das verdiene dann doch Beachtung als kluges, bedenkenswertes Werk altehrwürdiger Autoren.

Das frische Alterswerk im Hessischen Rundfunk

Und jetzt zurück ins Jahr 2022: Was geschieht zum 90. Geburtstag? Wohmann, die man oft nur noch erwähnt, wenn darüber lamentiert wird, wie vergessen sie doch sei, ist eine Woche täglich im Hessischen Rundfunk zu hören. Mit Erzählungen, überwiegend neu interpretiert von Birgitta Assheuer. Die Auswahl der Texte ist skandalös. Gemessen an der Sitte, die üblichen Urteile wiederzukäuen. Aber die Redakteure, die 2012 so alt waren, dass sie erinnerungsselig davon schwärmten, wie jugendlich Wohmann doch vor 30 oder 40 Jahren noch gewütet habe, sind womöglich stiller geworden. Stattdessen, nehmen wir den natürlichen Vorgang des Vergehens respektive Wachsens als Indiz, dürfte die Literaturauswahl unterdessen von Frauen oder Männern vorgenommen werden, die Jahrzehnte später als die Geehrte geboren sind. Und damit auch um Jahre jünger als viele der einstigen Wohmann-Kommentatoren.

Babyjunge Literatur

Und sie, die Jüngeren, präsentieren überwiegend Erzählungen, die die Schriftstellerin im Alter veröffentlichte. Als diese angeblich – weil Frau und nicht mehr 30 – nichts mehr richtig auf die Reihe brachte. Und wovon handeln die Erzählungen der Alten? Zum Beispiel von Babys. Ein Lieblingsthema von Wohmann, der alten und der jungen. Weil Menschen anfangs noch unverstellt seien, wie sie sagte. Und sich bei ihnen alle möglichen Emotionen direkt erkennen ließen, ideal für eine Beobachterin wie sie. So treten ihre Romanhelden, die zuweilen vergeblich Kommunikationswege zu anderen bahnen wollen, aufs Selbstverständlichste in Gespräche mit Kleinkindern. Nicht zuletzt weil diese nichts von Literatur wissen wollen.

Junges Sensorium

Sie selbst allerdings, bedauerte sie kurz vor ihrem 80. Geburtstag, sei als Baby nicht “im Kinderwagen mit Windschutzscheibe” herumkutschiert worden, weil sie einen großen Garten gehabt hätten. Aber die Rolle als Beifahrerin im Auto sei womöglich eine “Nachhol-Möglichkeit” für ihre verpasste Kinderwagenzeit, spekulierte sie. Jedenfalls empfinde sie die Reisesituation auf ihrem Ausguck, dem Beifahrersitz, als “das Schönste”. Sie, die das Altern ohne jede Altersmilde beschrieb, hatte am Ende womöglich ein so junges Sensorium wie in keiner anderen Phase ihres Schaffens.

Die zeitlose Urkraft der Geburt

Für diese ausgeprägte Neugier einer Alten hat die Literaturauswahl durch den Hessischen Rundfunk zum 90. Geburtstag wiederum selbst ein frisches Sensorium. Nur was passiert, wenn diese Aufgeschlossenheit dem jungen Werk Wohmanns gegenüber Schule macht? Dann könnte noch Erschütterndes zutage treten. Denn der Aufbau Verlag hat bislang nicht eine der Erzählungen drucken können oder wollen, die Wohmann in ihren allerletzten Lebensjahren verfasste. Und die, vermuten Werkkundige, noch drei Bände umfassen dürften. Wie diese von einer noch älteren Frau geschriebenen Geschichten dann klingen? Womöglich nochmals stärker: Nämlich wie die zeitlose Urkraft, mit der ein Mensch schreit, der gerade geboren ist. – Das Foto stammt von Jule Kühn. Die Rechte liegen bei Georg Magirius.

Gabriele Wohmanns Erzählungen 2022 im HR

Die überwiegend neu interpretierten Erzählungen lesen Birgitta Assheuer, aber auch Karmen Mikovic und Renate Körper. Die Regie hat Marlene Breuer. Für die Besetzung zuständig ist Heike Oehlschlägel, Assistenz: Sara Glahe. Die Redaktion haben Niklas Vogel und Julika Tillmanns.