Spirituelle Wanderungen, Stille

Die Gunst des Gegenteils

Die Gunst des Gegenteils - Michaelskapelle in Streuobstwiese bei Neustadt am Main - Station der Reihe GangART - Foto: Georg Magirius

Was ist das Ziel des Lebens? Das Schöne, Reiche, Gute, sagen viele. Mit Logik, Muskelkraft und allen möglichen weiteren Mitteln und Mittelchen versucht man gewöhnlich, es auf direktem Wege anzusteuern. Im Monat Mai des Jahres 2022 allerdings begeben sich Wanderer der Reihe GangART unter Leitung des Schriftstellers und Theologen Georg Magirius auf einen anderen Weg. Nicht am Nabel, sondern eher am Ohrläppchen oder am kleinen Zeh der Welt. Nämlich im Maintal zwischen Neustadt und Rothenfels. Und damit dort, wo noch nicht einmal ein Zug verkehrt. Und das Gewünschte, Erhoffte, also einfach das, was dem Leben Witz und Schwung verleiht, geschieht. Warum? Weil es nicht direkt angegangen wird. Sondern? Indem immer wieder Anderes als das passiert, was einem auf dem Weg zum Ziel in der Regel hilfreich erscheint. Es ist die Gunst des Gegenteils.

Was dem Leben Witz und Schwung verleiht - Blick aufs Kloster Neustadt - Foto: Georg Magirius

Dem Himmel näher kommen

Auf der Suche nach – warum bescheiden sein? – Überirdischem geht es in die Kirche des Klosters Neustadt. Aber dann auch schon wieder hinaus. Denn anders als ein Baum verfügt der Mensch über keine Wurzeln. Dafür hat er Beine, um sich auf den Weg zu machen. Nicht nur nach draußen, sondern auch noch aufwärts geht es. Und wenige Schritte später sind die Pilgerinnen dem Himmel näher gekommen. Sie befinden sich höher als die Kirchturmspitzen, die mit ihrem Unterbau im Tal geblieben sind. Außerdem zeigt der Main seine unaufgeregte Pracht. Er gibt die Richtung vor, zumal das Motto der Tour lautet: Dem Fluss der frischen Kräfte folgen.

Was dem Leben Witz und Schwung verleiht: Der Main bei Kloster Neustadt - Foto: Georg Magirius

Gegenkräfte

Der Fluss allerdings verschwindet. Und das, obwohl er doch eben noch deutlich vor Augen lag. Denn der Wald nimmt die Wanderer auf, es geht noch steiler bergan, was sich nicht unbedingt himmlisch anfühlt. Wie soll man dabei Kräfte finden? Der Pfad ist eingekerbt infolge des Wassers, das einem Waldgänger an Regentagen entgegenkommt. Niemand sagt ein Wort. Und erneut geschieht das Gegenteil von dem, was üblich ist. Die Waldgängerinnen schweigen, aber es ist nicht still. Manches ist deutlicher als sonst zu hören. Da ist das Rauschen der Baumwipfel. Selbst der Waldboden tönt: Aufgeweicht vom unlängst gefallenen Regen kommentiert er leise die Berührungen der Füße.

Wunderstimme im Wald

Dazu Vögel, die sich nicht zeigen, aber hörbar sind. Und zwar mit dieser erschütternd schönen Eigenart, den Menschen damit nicht an- und aufzurufen. Wenigstens nicht trillerpfeifenschrill, wie das manche Trainer, Ratgeberinnen und Experten tun, sodass man – statt aufgeweckt zu sein – jede noch verbliebene Energie verliert. Die Vögel klingen dagegen so, dass sich ein Mensch im Wald begleitet weiß. Und obwohl klar ist, wie egal man doch einem solchen Wesen mit Wunderstimme ist, geschieht – schon wieder! – Gegenteiliges. Denn indem das Rufen einen in Ruhe lässt, fühlt sich der Waldgänger umsorgt. Ein Vogel treibt niemanden an. Sein Ruf ist Gesang, sonst nichts. Und der Mensch? Er geht. Und das ist alles.

Was dem Leben Witz und Schwung verleiht - Stilleweg auf einer Tour der Reihe GangART mit Georg Magirius

Bedient am Tisch

Der Wald öffnet sich, eine Wiese zwischen Bäumen und Bächen, ein Ort der Rast. Am Holztisch fühlt man sich bedient, ganz ohne Tischdecke, Koch und Kellner. Sich bedient fühlen – das ist kein Ausdruck der Enttäuschung, sondern meint: Manchmal lässt sich genussvoll essen und trinken, ohne selbst viel dafür tun zu müssen. Noch nicht einmal Plätze im Genusstempel gilt es zu reservieren. Denn die Rast auf dem Mainwanderweg zwischen Neustadt und Rothenfels kommt ohne Wände aus. So gehört es offenbar zum Wesen des Genießens, dass man es nicht erwerben oder herbeibefehlen muss. Stattdessen findet Kräfte,wer das Leben nicht zu erringen versucht. Doch die ungewöhnlichste Erfahrung von dem, was normalerweise gilt und sich ins Gegenteil verkehrt, um dem Leben Witz und Schwung zu verleihen, wartet am Ende der Tour.

So weit, so klassisch

Die Burg Rothenfels ist das Ziel. Nur was ist das für eine Burg? Sicher thront sie über dem Main. Also über dem Strom, der während des langen Waldgangs verschwunden schien. Jetzt ist er wieder zu sehen. Mit den Pilgern zusammen ist er kraftvoll und stetig weitergezogen. Die Burg ist eine Festung. So weit, so klassisch. Trotz ihrer dicken Mauern jedoch – Gunst des Gegenteils! – überrascht sie mit einer ungeahnten Leichtigkeit. Kein Tor verschließt die Burg. Jeder Fußgänger darf aufs Gelände, in den Hof hinein. Selbst Jesus! Auch er, der zu Fuß und ohne Schlüsselbund unterwegs war, fände einen Weg in diese Burg. Sie ist von den Quickbornern geprägt, einer kirchlichen Jugendbewegung, die die Quelle, den Aufbruch und die Neugier im Namen trägt.

Die Gunst des Gegenteils - im Hof der Burg Rothenfels, Station einer Tour der Reihe GangART mit Georg Magirius

Und wieder singt es

Aber nicht nur das Burgtor steht offen. Noch viele weitere Türen sind unverschlossen. Dazu ermöglichen die Fenster Blicke hinaus auf Main und ins Maiengrün. Und aus offenen Fenstern wiederum tönt es in den Burghof hinein. Es erinnert an das Rufen der Vögel im Wald, das einen in Ruhe lässt: Probe eines Kinderchors. Es gibt einen Tanzkurs, einen Kiosk, ein Buchhandlung. Entscheidend: Als Eindringling muss sich niemand fühlen. Denn bereitwillig weist jeder, den man fragt, den Weg zum Ziel: zu Rittersaal, Schorle, Kapelle, Kaffeeautomat. “Für Hausgäste gibt es heiße Getränke”, steht auf einem Schild. Aber exakt das sind die Pilgerinnen ja! Unterwegs geborgen, zu Gast in einem Haus, das sicher ist, ohne verschlossen zu sein.

Die Reihe GangART

Die Tour ist angeregt vom Buch “Frankenliebe“, das Georg Magirius im Echter Verlag veröffentlicht hat und in der 2. Auflage vorliegt. Außerdem von seiner Arbeit am Buch „Frankenfreude. 33 Orte zum Staunen und Verweilen“, das im März 2023 unter dem Lektorat von Thomas Häußner bei Echter erscheint. GangART ist eine Reihe spiritueller Tagestouren durch Franken, Frankfurt, Schwarzwald und Taunus. Resonanz erfährt sie etwa in Deutschlandfunk, HR, im Reiseblatt der FAZ, in Main Echo, Main Post und im Rucksackradio des BR. Die nächsten Touren sind am 3. September 2022 und 3. Dezember 2022. Informationen dazu hier.

Weitere Fotos der Tour “Die Gunst des Gegenteils”