Religion und Poesie
Der Zuhörer
Heute vor 350 Jahren, am 6. November 1572, starb Heinrich Schütz. Er gilt als der bedeutenste deutsche Komponist seiner Zeit und als der bis heute wohl Protestantischste unter den Komponisten. Aber was soll solch ein Superlativ bedeuten, da Protestantisches wie überhaupt Christliches in hiesigen Breitengraden heute eher unter Irrelevanzverdacht stehen? Antwort: Schütz legte es nicht darauf an, sich ein Etikett wie “protestantisch” anzuheften. Stattdessen war das anregend Protestantische an ihm: Er hörte zu. Vielleicht lässt sich sogar sagen: Er ist der Zuhörer unter den Komponisten.
Im Augenblick des Klingens
Die Intention eines jeden Protestanten im ursprünglichen Sinn ist es ohnehin nicht, in erster Linie der angeblich richtigen Gruppe anzugehören wie zum Beispiel den Protestanten. Sondern? Sich von einem Werk leiten zu lassen, das einem Universum gleicht. Und das Begehren dieses Werkes ist es nicht, gefälligen Beifall über allerlei ästhetische Feinheiten auszulösen. Vielmehr ist es so angelegt, dass in der Begegnung mit ihm Augenblicke enstehen können, in denen Worte sich als Klang entfalten. Der erschüttert, mit Schönheit aufschreckt und Ja sagen lässt. Wozu? Dass der Mensch hören darf, wie Ja zu ihm gesagt ist – im Augenblick des Klingens.
Studiert in Venedig
Heinrich Schütz, der von 1585 bis 1672 lebte, machte die Dresdner Hofkapelle zum Mittelpunkt der deutschen Musik und bewahrte sie während des Dreißigjährigen Krieges vor dem Untergang. Schütz stammte aus einer begüterten Familie und zögerte lange, ob er Musiker werden sollte. Zunächst studierte er in Marburg Jura. Als „ein junger und die Welt zu durchsehen auch begieriger Mensch“ reist er dank eines Stipendiums nach Venedig. Dort studiert er bei Giovanni Gabrieli, Kantor an San Marco. Auf dem Totenbett vermacht Gabrieli dem Schüler einen Ring, erinnert sich Schütz, „aus sonderbahrer Affektion … zu seinem guten andencken“.
Wettstreitende Chorgruppen
Gabrieli verfasste mehrchörige Musik für bis zu 22 Stimmen, wobei er Vokal- und Instrumentalgruppen auf verschiedene Emporen des Markusdoms platzierte. Und inmitten dieser miteinander wettstreitenden Chorgruppen: Die Hörenden. Es war ein für den Raum komponierter Klang, der überwältigen sollte. Als Kapellmeister in Dresden agiert Schütz dann ähnlich, etwa bei den „Psalmen Davids“. Auch die „Musikalischen Exequien“ spielen mit den Möglichkeiten des Raums. Ein Freund von Schütz hatte sie für sein eigenes Begräbnis erbeten. Die Worte des greisen, zum Tod bereiten Simeon aus dem Lukasevangelium werden nahe der Orgel gesungen. Freudige Antwort kommt vom Chor der Seele und der Engelstimmen. Fern sind sie platziert und klingen ahnungsvoll – wie aus einer anderen Welt. Diese Art, Musik zum Ereignis werden zu lassen, kann keine moderne Surround-Technik auch nur annähernd wiedergeben.
Ein Komponist hört zu
Was aber ist nun genau der protestantische Impuls bei Schütz? Wie Martin Luther erfährt er die Bibel als Poesie, die sich in der Gegenwart Ton verschaffen will. In seinen geistlichen Vokalwerken bringt Schütz vor allem Biblisches zu Gehör. Damit verfährt er entschieden radikaler als später Bach in seinen Passionen und Kantaten. Obwohl Schütz Komponist ist, geht er dabei nicht etwa von Melodien aus, die er dann in einem zweiten Schritt mit Worten unterlegen würde. So tat es etwa der italienische Zeitgenosse Monteverdi, dessen kompositorisches Gepräge Schütz während eines zweiten Italienaufenthaltes kennengelernt haben dürfte. Nein, bei Schütz ist es umgekehrt. Er macht die Sprache zur Musik. Denn immer ist sie es, die zum Ausgangspunkt der Melodiebildung wird. Damit ist das höchst Irritierende, aber auch Staunenswerte dieses Musikers angezeigt. Ein Komponist, der großartige, bis heute immer wieder neu aufgeführte Musik geschaffen hat, ist vor jeglichem Komponieren immer ein Hörer gewesen. Er hörte zu. Und hörte: Was als Buch gilt, hat eine Sprache, die im Grunde musikalisch ist.
Deutlich vernehmbar die Worte
Der Dresdner Kapellmeister geht beim Aufdecken der biblischen Poesie vom natürlichen Sprechrhythmus aus, deutlich vernehmbar sind die Worte, sinngemäß werden sie betont durch Heben und Senken, Beschleunigen und Verlangsamen, An- und Abschwellen der Stimme. Bei Schütz wird also der Ausdruck des Glaubens nicht als geschriebenes, sondern als gesprochenes, gesungenes Wort aufgefasst, als etwas Lebendiges, das sich im Augenblick ereignet.
Unverwechselbar gegenwärtig
Allerdings weicht Schütz vom natürlichen Sprechrhythmus auch ab, stellt Wörter um, hebt sie hervor, um dank der Musik den Wortsinn noch einmal auszulegen. So ist er Interpret, Bewahrer und Neuerer zugleich – wie es charakteristisch ist für all jene, die sich vom Urimpuls der Reformation inspirieren lassen. Denn sie wollen nicht einem bedeutungsvollen Zweig innerhalb einer bedeutenden Religion dienen und sich an diesem Teil des Astwerks erfreuen. Es geht ihnen ums Ganze. Also noch nicht mal um die Zweige insgesamt, sondern um den Baum. Vor allem aber, dass er Wurzeln hat, die in ein Terrain reichen, aus denen sie nicht weniger als alles beziehen. Oder anders gesagt: Wie Menschen Erfahrungen mit dem Lebendigen gemacht haben, ist aufgezeichnet. Das war. Aber was war, soll zum Klingen kommen. Und zwar nicht auf konservierende Weise, sondern unverwechselbar gegenwärtig.
Einem Kunstwerk mit Kunst begegnen
Der auf Erneuerung gerichtete Urimpuls der Reformation richtet sich also auf die Bibel. Sie ist nicht nur Heilige Schrift, sondern ist als ein Buch für jeden verstanden worden und ansatzweise immer schon Gesang und Lied. Musicus Poeticus wird Schütz oft genannt. Alle musikalische Kunst richtet sich in seinen geistlichen Werken auf die Vergegenwärtigung des biblischen Textes, was nichts anderes bedeutet als: Einem Kunstwerk mit Kunst begegnen. – Fotos: Wikipedia, Pixabay.