Allgemein

Die Attraktivität des Wenigen

Die Attraktivität des Wenigen

Das Geringe gilt als öde, ärmlich oder peinlich. Wachstum, Massenhaftigkeit oder ein staccatoartig knallendes Feuerwerk dagegen ziehen an, heißt es. Manchmal aber gibt es wohl so etwas wie die Attraktivität des Wenigen. Gemeint sind Hinweise darauf, dass inmitten des scheinbaren Zwangs zur Geldvermehrung etwas wegfallen könnte. Was dann nicht unbedingt weh tun muss, sondern gut tut. Darauf macht die Resonanz des Blogs der Heilspraxis von Georg Magirius aufmerksam. Die Besucherzahl der Internetseite des Erzählers und Theologen inklusive der Webseiten Heilspraxis.de und georgmagirius.de überschritt im Mai 2023 die Zwei-Millionengrenze. Im Jahr 2011, als der Blog startete, klickten 150 Besucher täglich die Seiten an. Im Jahr 2023 sind es 900 pro Tag.

Jenseits der Erfolgsratgeber

Für das steigende Interesse scheint eben diese Attraktivität des Wenigen verantwortlich zu sein. Denn der Heilspraktiker gibt Anregungen, die die Logik der Erfolgsratgeber hinterfragen. Eher sind es Abseitigkeiten, Hinterlandempfehlungen und Winzigkeitsexzesse. Wie die Behauptung, dass ein einfaches Leben auf den Spuren Jesu in einen Reichtum anderer Art führe. Davon handelte schon das unter dem Lektorat von Dr. Marc M. Kerling 2006 entstandene Buch “Vom Reichtum des einfachen Lebens”. Veröffentlicht übrigens in einer Zeit, die als grundlegende Krise empfunden wurde. Jesu Art, durch die Kunst des Zuhörens Menschen zu heilen, zu erzählen, aus nahezu nichts rauschhafte Feste entstehen zu lassen oder auch sein Mut, an die Ränder zu gehen und selbst dem Abseits nicht auszuweichen – all das seien Kostbarkeiten, die unabhängig vom Kontostand erfahrbar seien.

Beachtenswert – aber

Detail eines Vollkornbrotes der Frankfurter Bäckerei Schwarzer Ritter

Ein Luxus, der wohltuend wirke, kommentiert damals im EF-Magazin die Politologin Dr. Antje Schrupp. Nur leider könne ihn sich kaum jemand leisten, weil damit kein Geld zu verdienen sei. Und Dr. Ute Leimgruber, inzwischen Professorin der Theologie, merkte im Magazin “Die Mitarbeiterin” an: Beachtenswert, doch nicht wirklich gelungen. Es sei nämlich einfach nicht so wie behauptet, dass es auf Geld allein nicht ankomme. Und dass der Autor in einem Kuchen mit Wald-Heidelbeeren etwas von Jesu Rede vom Reich Gottes aufscheinen sehe? Nein, das habe er nicht begriffen: Das Reich Gottes sei nicht so wenig, sondern viel mehr. Deswegen: All das knirsche, wenn man zum Beispiel die Verantwortung für Kinder trage.

Winziger als eine Heidelbeere: ein Senfkorn

Inzwischen spaziert der freie Theologe 17 Jahre nach Veröffentlichung des Titels “Vom Reichtum des einfachen Lebens” noch immer schrecklich ärmlich respektive maßfrei freudig durch ein Leben, das nicht sonderlich kostspielig ist. Vielleicht weil für Jesus das Reich Gottes bereits aus einem Senfkorn herauswuchs? Dessen Größe bis zu 10 Mal geringer ausfällt als ein wild gewachsenes Heidelbeerkügelchen – geschweige denn ein Heidelbeerkuchen? Da dürfte keine noch so renommierte Forscherstimme das Millimetermaß uminterpretieren können. Wobei der 54-Jährige inzwischen vom Heidelbeerkuchen auf eine fast lasziv zu nennende Weise zum Erstellen von Himbeer-Biskuit-Sahnerollen fortgeschritten ist. Womit er sich einmal mehr in Sackgassen der Peinlichkeit hineingebacken haben dürfte, nimmt man eine in Romanen Arnold Stadlers wiedergegebene Erkenntnis aus der Branche der Lebenseroberer ernst, die lautet: Niemand, der nur annähernd ein seriöses Leben erringen wolle, könne es sich erlauben, von Gott oder von Kuchen zu sprechen. Denn das tun nur alte Frauen.

Magirius knirscht weiter

Aber knirschte es nicht lauter, wenn ein vom Klang der Bibel Beglückter niemals auch nur andeutete, dass Geld durchaus bedeutend, aber vielleicht dann doch nicht unbedingt in jeder Situation das einzig Wichtige sei? Also knirscht Magirius weiter und weist auf Reichtümer hin, deren Wert sich nicht in Euro beziffern lassen. Wobei das Knirschen eben oft ein Rühren ist, wenn er sechs Eier in den Teig gibt, ohne augenblicklich Konkurs anzumelden, weil sich solche Üppigkeit angeblich kein freier Autor leisten könne. Dazu hat er noch immer nicht Gott und Liebe aus dem Schatz der Lebensworte gestrichen, um dadurch besser voranzukommen. Im Gegenzug könnte wiederum das, was knirscht, ab und an aufgeweckter und konstruktiver sein als ein Sich-Einfügen in schablonenhafte nur vermeintliche Selbstverständlichkeiten.

Der Nährwert von Himbeeren

Und liegt es am nicht nur ethisch-spirituellen Nährwert von Heidelbeerkuchen und Himbeersahne-Biskuitrollen? Nach bald 25 Jahren als Wortarrangeur ist die anfangs unzählbar häufige Reaktion leise geworden, die lautet: „Aber leben kannst du davon nicht!“ Denn das Erzählen hat den Erzähler offenbar nicht getötet. Und womöglich ist solch ein Leben nicht einmal auf ekstatische Weise verantwortungslos, nimmt man das eine oder andere Testimonial aus seiner Umgebung ernst. Oder vertraut sich der Lektüre von „Schmetterlingstango“ an, in dem ein Vater das Leben mit seiner Tochter schildert.

Spionieren im Mittelgebirge

Also spaziert Magirius auch 2023 gemächlich durch Mittelgebirgslandschaften, um eine neue Tour der Reihe GangART auszuspionieren. Oder einfach so. Oder um auf Stille zu hoffen, die ihn einen Spirituellen Wegbegleiter verfassen lässt, der nicht nur zum Wandern anregt, sondern überdies zum Stehenbleiben. Und zum Aufatmen und Staunen – noch so etwas, das mit oder wenig Geld im Beutel erfahrbar ist.

Luxus ohne Führerschein

Dann wieder finden sich in seinem Blog Hinweise auf einen Luxus ohne Führerschein. Bei dem das Geld, das sei eingeräumt, nun doch eine große oder die entscheidene Rolle spielt. Denn welch eine Menge – die unökologische Begrifflichkeit sei verziehen – Kohle erhält jemand allein schon dadurch, wenn er vom Gegenteil einer Führerschein-Existenz getragen wird. Allein die kaum zu überschauende Zahl an Fahrstunden, die wegfallen! Und bei jeder Fahrradreparatur nimmt der Gewinn zu, weil keine teure Autoreparatur anfällt.

Abseits der Ratschläge

Aber nie ist im Blog die Rede davon, dass jemand auf diese Weise leben müsse. Ratschläge passen nicht ins erzählerisch gestimmte Ambiente. Es geht einfach darum, Merkwürdiges nicht von vornherein auszumerzen, sondern ihm Achtung widerfahren zu lassen zur Förderung der Vielstimmigkeit. So biegt der Blog von Denkautobahnen in Landschaften ab, die neue Schritte gehen lassen. An denen sich gar nicht einmal so wenige zu laben scheinen. Darauf lässt das beliebteste Audio der Webpräsenz der letzten Monate schließen. Es ist eine unter der Redaktion von Sabine Winter entstandene Sendung im Bayerischen Rundfunk, die dazu inspiriert, sich ausgerechnet im Winter auf Wanderschaft zu begeben.

Ein eigener Ton

Aber das womöglich Überraschendste: Der Blogbetreiber bringt sich und sein Tun ins Spiel, aber nicht jedes Mal. Womit er wieder gegen ein heutiges Erfolgscredo verstößt, indem er andere vorstellt. Dafür beschert ihm das eine ungzügelte Lust am Formulieren. Diese Porträts gehören zu den gefragtesten Blogbeiträgen. Wie zuletzt „Geboren für diesen Augenblick“ über den Pfarrer und Poeten Friedrich Karl Barth. Oder “Die Alltags-Archäologin“ über die Museumsleiterin Simone Michel-von Dungern. Es sind Menschen, die ihrem Ton treu bleiben.