Allgemein, Religion und Poesie
Die Antwort sind Wellen
Arnold Stadler gilt als eine der wichtigsten Stimmen unter den Schriftstellern in Deutschland. Wer sich dem Schreiben des vielfach ausgezeichneten Autors annähern will, sollte aber auf keinen Fall ein Buch von ihm lesen. Denn das Außergewöhnliche des Autors, der mit dem Büchnerpreis den bedeutendsten Literaturpreis in Deutschland erhalten hat und am 9. April 2024 vor 70 Jahren in Meßkirch geboren wurde, zeigt sich nicht in einem Buch. Kommt er beim Schreiben nicht weiter, hat er einmal im Schweizer Radio gesagt, beginnt er häufig das, was ins Wort will, in Paradoxien zu formulieren. Das eine hängt also bei ihm mit dem anderem zusammen, selbst wenn es gegenteilig erscheint. Es sollten daher schon zwei Bücher sein, will man seinem Werk auf die Spur kommen. Mindestens. Vor Jahren veröffentlichte Bücher sind ebenso hilfreich, selbst wenn in Buchhandlungen fast nur Aktuelles steht, in Büchereien Titel in immer rascherem Takt abgewickelt werden und ein Lesen mit Blick aufs Ganze als Unterfangen eines hoffnungslosen Romantikers abgetan wird.
Über das Talkrelevante hinaus
Dabei ist die Hoffnung im Werk Arnold Stadlers nie ausgeschlossen. Über das Talkrelevante schaut er weit hinaus, mögen noch so viele den Sinn für Zusammenhänge achtsamkeitsgewieft aufs jeweilige Jetzt zusammenschrumpfen lassen. Auf das, was gerade dran und am besten auch noch nützlich ist. Aber selbst wer gegenwartsbeflissen zum “aktuellen Stadler” greifen will, wird ihn kaum zu fassen bekommen, ist das aktuelle Buch doch so zielsicher gar nicht zu bestimmen. Für welches soll sich der Leser entscheiden? Es sind zwei, mit nicht sonderlich viel Abstand voneinander veröffentlicht. Und sie gehören verschiedenen Welten an, will man der Zunft der Zuordnungsexperten trauen. Aber welche ist dann die Aktuelle?
Zusammenklang
Da ist einmal eine 2022 veröffentlichte essayistische Reisegeschichte. Sie sei eher etwas für kunsthistorisch Interessierte, sagen diejenigen, die den Menschen als Zielgruppenelement ansehen. Der 2023 veröffentlichte Roman hingegen schwimme vertriebstechnisch betrachtet eindeutig auf belletristisch relevanten Kanälen. Allerdings ist das angeblich kunsthistorisch gestimmte Buch „Mein Leben mit Mark“ die Geschichte einer großen Liebe. Der Maler Mark Tobey ist gerade gestorben, als Stadler dessen Bild „Growing fall“ sieht. Damit beginnt die Geschichte und auch die Arbeit an dem 46 Jahre später veröffentlichten Buch, in dem das Leben des Malers mit dem des Autors zusammenklingt.
Zum Meer hin
“Mein Leben mit Mark” öffnet sich mit dem Besuch des Ortes, an dem Tobey als Kind zu schauen gelernt hat. Der Wanderer auf Marks Spuren sitzt in Trempealeau, sieht auf den „Missisippi und wie seine Linie in einem großen Bogen zum Meer hin verläuft“. Dort hat Tobey seine Erkenntnis erhalten, „dass alles mit allem zusammenhängt und auch bildweise hervorgebracht werden konnte“. Es ist der Ort, an dem ein Hauptsatz seines Leben begann: „We are all waves.“
Antwort
Doch der Sinn für Zusammenhang mündet nicht in einem vagen Überall, was dann ein Nirgendwo wäre. „Irgendwo. Aber am Meer“, heißt Stadlers jüngster Roman, in dem wie im Tobeybuch das Schauen aufs Wasser einen Handlungsschwerpunkt bildet. Der allerdings weder Handlung, schwergewichtig noch etwas Punktuelles ist. Hat der Autor denn dann überhaupt ein zentriertes Anliegen?, mag ein Buchnutzer fragen. Findet sich ein Extrakt, wenigstens ein schlüssiger Plot? Die Antwort sind Wellen. Dazu Hitze – am Missisippi nicht weniger als an der griechischen Westküste beim Schauen aufs Meer. Ein Flirren, das den Horizont aufzuheben scheint. Und wie im Tobeybuch beginnt der Roman mit einem Bild. Diesmal steht das vom Autor aufgenommene Foto nicht am Anfang des Buchs, sondern bildet den Einband. Er zeigt, indem er den Roman umschließt, dessen Weite. Und wieder kommt der Erzähler dort an, wo alles Bewegung ist, fern und nah und schön. Dort, „wo ich ohne den Pool dazwischen meinen Infinityblick haben konnte. Ja.“
Hoffnungsschmerz
Auf Ithaka allerdings, zu dem der Erzähler schon viele Male im Leben hinübergesehen hat, war er noch nie. „Und Heimat gab es auch nicht für mich, wohl aber Heimweh.“ Denn wer die Welt nicht segmentiert, ist jemand, der vermisst. Dass etwas oder jemand nicht mehr oder noch nicht ist. Stadlers Werk ist ein leidenschaftlich komponiertes, verbindungsreiches, nie konstruiert klingendes musikalisches Fließen. Sein Ja bedeutet: Alles hängt miteinander zusammen. Und nichts soll verloren sein. Deswegen wird auch der Schmerz nicht übergangen, der sogar der Grundriss des Lebens sei. Ein Satz, der eingangs seines ersten Romans „Ich war einmal“ zu finden, aber nicht abgeschlossen ist. Der Schmerz jedoch trägt woandershin, kann wie vielleicht nichts sonst Grenzen überwinden und Nähe erfahren lassen. Der Schmerz ist Hoffnung, die nie ausgeschlossen werden kann: “Hoffnungsschmerz”.
Bleiben-Wollen
Das Licht und das Wasser waren fast dasselbe, und dieser Fluss ist mehr als ein Fluss, ist mindestens eine Erinnerung ans Meer, ist ein Meerarm. Trempealeau liegt an einer Bucht, Trempealeau ist ein Ort am Meer … Und obwohl ich die Schiffe auf dem Fluss der Flüsse Amerikas sah und das Fließen, dachte ich: Hier will ich bleiben!
Arnold Stadler, Erbarmen mit dem Seziermesser
Einmalig
So schreibt Stadler von der Reise nach Trempealeau bereits 22 Jahre vor seinem Tobeybuch in „Erbarmen mit dem Seziermesser“. Eingebunden ist der Erbarmen-Band mit „Growing fall“, also dem Bild, das der Anfang von Arnold Stadlers Liebe zu Mark ist. Plagiiert der Autor sich selbst? Nein, denn jede Welle ist einmalig, Nachklang und Vorspiel zu allem anderen, einem nicht auf den Punkt zu bringenden, aber grundegenden Antrieb. Der sich auch in dem 2002 erschienenen Romans „Sehnsucht“ zeigt, in dem der Ich-Erzähler bereits als Volksschüler Mitglied in der “Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger” wird.
Immer schon wollte ich eine Verbindung zum Meer, von dem ich wusste wie von Gott, den ich eines Tages oder Nachts sehen werde. Das Meer war da, ich wusste es schon, als ich noch gar nichts von ihm wusste.
Arnold Stadler, Sehnsucht. Versuch über das erste Mal
Infinity
Die Sehnsucht führt zum ersten finanziellen Zusammenbruch. Infolge einer weder klug portionierten noch kühl kalkulierten Annäherung ans Meer, nämlich dank eines Infinity-Kaufs von Rettungsmarken, die das alles andere als passive Mitglied in sein Poesiealbum einklebt. Daraufhin kündigen seine Geldgeber die Mitgliedschaft in der Rettungsgesellschaft. Und führen einen Sicherheitsabstand zum Meer und zu den Schiffbrüchige rettetenden Matrosen ein. „Ich blieb also an Land zurück.“ Aber nicht für immer, wie der Blick in Stadlers neuen Roman belegt – eine Verbindungslinie, die zu ziehen angemessen erscheint. Denn der Protagonist des Romans „Sehnsucht“ ist mit dem von „Irgendwo. Aber am Meer” verwandt, weil der eine wie der andere noch “ich” sagt, wie Stadler es wiederum im Roman “Am siebten Tag flog ich zurück” seinen Erzähler auf faszinierend variantenreiche Weise wiederholend sagen lässt.
Präzise
Wer sich dem Schreiben Stadlers nähert, geht am besten aufs Ganze. Weil bei ihm unfassbar präzise alles miteinander zusammenhängt. Und gerade das Fehlende nicht fehlen soll, weil es kein Fehler ist, sondern vermisst, ein Schmerz, der Erde und Himmel zusammenspricht. Ohne dass es sich reimt.
Ich war groß wie eine Schwertlilie. “Und das Heu roch nach der unglücklichen Liebe des Himmels zur Erde.”
Arnold Stadler, Ich war einmal
Verdichtet
Sätze wie der von der unglücklichen Liebe des Himmels zur Erde aus dem ersten Roman sind zuweilen als Zitat gekennzeichnet, haben aber keine Quellenangabe. Sie klingen wie aus einem Gedicht, genauso Kapitelüberschriften, selbst Buchtitel wie „Eines Tages, vielleicht auch Nachts“. Tatsächlich sind viele seiner Prosasätze Gedichten entnommen. Seinen. Nur sind von ihnen kaum welche veröffentlicht, weil sie, hat Stadler einmal angedeutet, nach seinem Tod erscheinen sollen. Als Ganzes. Denn alles gehört mit allem zusammen.
Ja
Das ist das engagierte Anliegen Stadlers: Dass es nicht um die Aktivistin, den Städter oder Experten geht, sondern um den Menschen, gerade den übersehenen, vergessenen und abgedrängten. Und noch mehr, am besten um alle Lebewesen, selbst winzige. Sie sind genauso Welt, die deshalb kein Zentrum haben kann, um das sich alles andere dann Geringerwertige stumm und zurechtgewiesen zu versammeln hat. Denn für Stadler ist nichts und niemand provinziell, sondern des Glücks, Erbarmens und der Liebe würdig. Intellektuell-feuilletonistisch betrachtet klingt das womöglich zu einfach oder peinlich erbaulich. Dafür aber ist es nie destruktiv und lässt sich auch nicht nutzbringend konzentrieren oder gewichten. Eher teilt es sich ahnend mit bei einem Blick am Morgen aufs Meer nach Ithaka, wo der Sehende noch nie gewesen ist. Und sich im Bleiben-Wollen Heimweh regt und Erwartung beim still bewegten Schauen. Was nichts anderes ist als das, was ein Leser Arnold Stadlers erfahren kann. Nämlich noch immer, endlich wieder oder vielleicht sogar erstmalig “ich“ zu sagen – und zu einem großen Autor und dessen Werk: Ja.
Die Heilspraxis dankt der Wanderschule GangART, die die Arbeit an dem Essay “Die Antwort sind Wellen” gefördert und die Horizont-Bilder überaus großzügig, nämlich honorarfrei zur Verfügung gestellt hat. Die Bilder sind zwischen Thüngersheim und Veitshöchheim aufgenommen.