Allgemein, Stille
Die Stimme des Zusammenhangs
Nein, aus der Mitte Deutschlands stammt das Buch von Rudolf Walter nicht: “Genießen – was schön ist und gut tut”. Der Autor lebt an der Grenze zu Frankreich, in Freiburg. Statt in den Sound klug reflektierter Abgesänge einzustimmen, findet der Theologe und promovierte Germanist in dem bei Herder veröffentlichten Band Fährten, die ins Helle weisen. Zu dem, was heiter stimmt. Zur Stimme des Zusammenhangs.
Was heiter stimmt
Klar, es gibt Hässliches. Und vieles ist nicht gut in der Welt. Aber warum den Blick darauf verengen? Mit allen Sinnen leben meint: Ich sehe auch das andere, ich höre, fühle und spüre auch das, was mich heiter stimmt und mit Freude erfüllt. Freude ist schön und tut gut. Genießen ist das aktive Widerlager der Freude, ihr Pendant.
Rudolf Walter, Genießen. Was schön ist und gut tut
Wollust und Maß
Rudolf Walter ist klar, dass ein Bekenntnis zum Genießen Gegenwind hervorruft. Das sei naiv, heißt es dann. Oder: Genuss ist was für Unersättliche! Für die Gierigen, Abgraser, Weltausbeuter. Für ihn aber ist es etwas völlig anderes als Konsum. Kein Lockwort der Marketingstrategen zur Förderung eines Immer-Mehr. Stattdessen ist mit dem Genießen untrennbar das Maß verbunden. Oft sogar der Verzicht – etwa auf Geschwindigkeit. Ein Tempolimit könne sogar zur Wollust führen. Schließlich hätte sie beim Schmecken nicht die geringste Chance zum Entfalten, wenn man Essen als rasante Wareneinfuhr versteht.
Die Sünde der Abstinenz
Das Genießen strömt aus einer nicht versiegenden Quelle. Auf sie, die es gut mit einem meint, weisen Kunstwerke hin. Ebenso Freundschaft, gerade wenn sich Wein dazugesellt. Ihn zu verweigern ist übrigens eine Sünde, wenn man damit wissentlich seine Gesundheit schädigt, zitiert der Autor Thomas von Aquin, den Star unter den Philosophen und Theologen des Hochmittelalters. Und man merkt: Zitieren ist für den Autor eine weitere Spielart des Genusses. Auch Gärten erzählen von der Quelle des Schönen und Guten, das Helfen, Ferien, Baden und Schwimmen. Selbst das Arbeiten, sofern es sich nicht allein als Kämpfen und Ackern versteht.
Stiller Genuss
Immer wieder kommt bei Walters Spaziergängen durch die Genusslandschaften des Lebens etwas ins Spiel, das nicht auf tosende Weise ekstatisch wirkt. Nämlich? Das Ruhige, Zurückgenommene, Leise. Also das, was gewöhnlich wenig zählt. Dann aber doch für viele notwendig ist, also im Wortsinn Not wendet. Aber aus der Not nun nicht gleich schon wieder eine Tugend macht, sondern schlicht – Genuss. Wie da wäre der Wald. Er hilft laut einer Umfrage von Ende 2023 in Deutschland auffallend vielen, sich einfacher und glücklicher zu fühlen. Weil eine Spaziergängerin ohne Fitness-Stockeinsatz oder auch ein im Walde stehendes Männlein hört. Schaut. Ruhig ist und – obwohl die Welt doch weit weg zu sein scheint – sich mit einem Mal gerade nicht von ihr abgeschnitten fühlt, wie der Autor eindrucksvoll schildert.
Verbunden mit allem
Das Leben im Wald zu beobachten führt dazu, dass man außen etwas spürt, was man auch in sich selber erfährt: Werden und Vergehen, das Wachsen, eine unerschöpfliche Kraft noch im Vergehen und immer wieder in der Erneuerung. Auch wenn man sich dessen gar nicht bewusst wird: Das ist eine intuitive, vielleicht sogar spirituelle Erfahrung von etwas, was uns in der Tiefe mit der Schöpfung verbindet. Gemeint ist die Erfahrung: Wir selber sind Teil der Natur. Die Wissenschaft weiß ja: Wir teilen immer einige DNA-Sequenzen mit letztendlich allen Lebewesen. Dieses Bewusstsein eines gemeinsamen Ursprungs bleibt nicht abstrakt. Es dämmert uns wieder im Gefühl der Einheit mit der Natur, die wir im Wald erleben können. Im Wald fühlen wir uns verbunden.
Dr. Rudolf Walter, Was schön ist und gut tut
Der Ursprung
Auf diesen unerschöpflichen Ursprung von Natur und Mensch weist das Buch hin. Er ist das Ziel, genauso der Anfang – oder soll man ihn treffender als Grund von allem bezeichnen? Das Buch schwenkt keine Fahnen, arbeitet nicht mit Schlag- oder Bekenntniswörtern, posaunt nicht Richtiges zwecks strenger Gefolgschaft in die Welt hinaus. Aber dazu animieren, der Stimme des Wahren, Guten, Schönen zu lauschen, will die Genusslust schon. Sie suchen, empfindsam sein für ihre Vorboten oder ihr Nachwehen. Denn das initiiert Freude, Trost und Dankbarkeit.
Zeitlupe
Klingt das zu schön, um wahr zu sein? Nein, das Wahre kann vermutlich gar nicht schön genug klingen, um immer neu zu überraschen. So zeigt sich die Stimme, die vom Urgrund kommt und genauso wiederum in seine Richtung weist, selten als Aktivismus. Eher als Flaute, als Nickerchen zwischendurch, als Schlaf. (Der Autor schüttelt verwundert den Kopf über das abfällige Wort “Schlafmütze”. Er versteht Schlafen eher als Kunst, die Beine auszustrecken.) Unterbrechung ist Genuss. Stillstand. Der paradoxerweise in Bewegung bringt, ganz nah zu dem, wo alles pulsiert und auf unerschütterliche Weise ruht. Zu diesen leisen, ja sogar unhörbaren Boten des unergründbaren Weltengrundes gehört auch das stille Lesen, schreibt Rudolf Walter. Es ist mitunter eine bis ins Extrem gesteigerte Zeitlupe, die schon möglich war, ehe die Sportreportagen sie zu feiern begannen.
Man kann sich zurücklehnen, durchatmen und einen Satz, eine Passage noch einmal an sich vorbeiziehen lassen. Jedes einzelne Wort, jedes Bild kann man noch einmal vergegenwärtigen und auskosten.
Rudolf Walter
Die Stimme des Zusammenhangs
Der Autor ist von Beruf Leser. Er hat über viele Jahre im Herderverlag unter anderem als Cheflektor Bücher im Bereich Spiritualität, Glaube und Religionen herausgegeben, begleitet und angestiftet. Darunter Werke von Ruth Pfau, David Steindl-Rast, Verena Kast und Anselm Grün, der auch das Vorwort zum Genussband verfasst hat. Unterdessen ist Rudolf Walter im Ruhestand, goutiert – lässt sich aus der Lektüre folgern – aber nicht nur den Ruhestand, sondern auch ruhige Gänge. So ist er für den Verlag weiter tätig, etwa als Herausgeber des Magazins einfach leben. Er ist das Gegenteil eines Einzelkämpfers, was sein Buch vielstimmig bezeugt. Denn an keiner Stelle ist er sich zu schade, auch andere zu Angelegenheiten wie Radfahren, Kochen oder Musikhören zu Wort kommen zu lassen. Das Staunenswerte an diesem Stimmenteppich: Die Stimme des Autors tritt gerade dadurch hervor. Nicht aufbrausend, fordernd, schneidend. Das Buch klingt gelassen. Es ist ein geglücktes und beglückendes Parlando, das die Größe hat, der Stimme des Zusammenhangs Raum zu geben.