Vorsängerin der Sehnsucht

Scheu wie ein Reh geworden. Freunde verloren, den Beruf. Kleine Tätigkeiten fühlen sich wie Gewichtestemmen an. Und dann ist da noch das Gefühl, vergessen zu sein. Aber wie ist das möglich? Ausgerechnet mit der Geschichte einer Übersehenen befindet sich die Autorin Marissy Conrady vermutlich gar nicht so sehr am Rand, sondern berührt zielsicher einen Zentralnerv der Gesellschaft. „Das Mädchen, das zwischen den Jahren verschwand“ heißt das Buch der Trägerin des Literaturpreises Web Walpurga. Das Buch der Germanistin handelt von der Long Covid Erkrankung Mays. In sie hat die Autorin ihr eigenes Leben eingeschrieben.

Leicht

Conrady klärt mit Informationen über die Krankheit auf, die keine sonderlich große Öffentlichkeit hat. Die informativen Passagen wechseln mit erzählerischen ab, sind geschickt miteinander verwoben. Gleich nimmt der rauschhaft fluide Stil mit, den der Leser aus bisherigen Büchern kennt. Atemlos, nicht gehetzt. Jeder Punkt, als ob es ihn nicht gäbe. Denn übergangslos lässt er in den nächsten Satz gleiten. Trotzdem entstehen Wortfügungen, die auf den Punkt gebracht sind. Wie herausgehoben wirken sie, gemeißelt, erkämpft, dem Leben entrissen. Leicht liest sich das Buch, scheint von Seite zu Seite noch an Leichtigkeit zu gewinnen, indem die Autorin von der Schwere der Krankheit schreibt, die May erfahren lässt: „Sie verlor den Menschen, den sie am meisten schätzte, sich selbst.“

Wahr

Indem die Autorin von Todesnähe und vom Ende ihres ersten Lebens erzählt, ist eine ungeheuer schöne Kraft zu spüren. Wie ist es möglich? Kann ein Reh lärmen? Die Antwort gibt die Autorin selbst: „Das Studium hatte May gezeigt, wofür Literatur gut ist. Dass sie ein Ort für Dinge ist, die man im richtigen Leben einfach nicht tun kann, aus welchen Gründen auch immer.“ Das Buch über May dürfte die Sehnsucht vieler treffen. Denn es lässt die Utopie eines Lebens anklingen, das sich richtiger als das sogenannte richtige Leben anfühlt: wahr. Nicht wenige machen nur unter Krämpfen bei dem geforderten und vielfach geförderten Unterfangen mit, nicht ihr eigenes Leben zu leben. Es ist die Show, am besten ohne Wunden durchs leben zu kommen. Oder mit Wunden, die sich zeigen lassen, weil man sie schnell oder originell überwindet, ummünzt, nutzbringend verwertet. Marissa Conrady tut anderes: Sie schreibt, dass das Leben weh tun kann. Und lügt es nicht um. Revolutionär einfach klingt das, brüllend zart, verschwindend leise und krachend direkt.

Ehrlich

Der Kreis an Menschen, die Du ertragen kannst, wird enger. Zu Deinen Eltern kannst Du ehrlich sein, aber Du kannst die Sorge in ihren Gesichtern nicht ertragen. Deswegen teilst Du nicht alle Schmerzen mit ihnen. Die Menschen, die Du ertragen möchtest, entfernen sich selbsttätig aus diesem Kreis. Denn Du kannst nicht immer mit lächeln. Manchmal bist Du der Spielverderber. Denn das bist Du, eine Spielverderberin. Du bist Mitte 30, die Menschen erwarten, dass Du etwas Anderes mit Deinem Leben anfängst, als nachmittags im Bett zu liegen, Veranstaltungen zu meiden oder eine Maske im ÖPNV zu tragen. Denn für sie ist die Pandemie vorbei. Sie konnten vergessen und haben dabei auch Dich vergessen.

Marissa Conrady, Das Mädchen, das zwischen den Jahren verschwand

Menschlich

Die Stimme einer Vergessenen klingt wie die Sängerin einer großen Sehnsucht. Im zweiten Leben macht May Erfahrungen, die sich im Geheimen vielleicht sogar alle erhoffen. Im zartesten, kaum hörbar wirkenden Pianissimo röhrt aus diesem Buch ein Begehren, das grundlegend menschlich ist. Für May erfüllt es sich während einer Rehabilitation, für die sie die Unterschrift ihres Hausarzt abgetrotzt hat, der meinte, sie solle sich nicht so anstellen, und sie unter Tränen aus der Praxis treten ließ. „Unter Gleichgesinnten zu sein war befreiend. Weil man sich nicht verstellen oder für einen Mittagsschlaf rechtfertigen musste. Weil wir miteinander lachen konnten.“

Das Mädchen, das zwischen den Jahren verschwand

Marissa Conrady, Das Mädchen, das zwischen den Jahren verscdhwand, Hardcover, ISBN: 9783711511362, story.one, Wien 2024