Biblisches, Neues Leben
Vom Glück des Aufhörens
Anfangen gilt als Tugend. Ohne das Aufhören jedoch fängt nichts Neues an. Lässt sich gar vom Glück des Aufhörens sprechen? Aber ob solch ein Glück die Besucherinnen und Besucher Anfang Juni 2024 in Bugenhagensaal der Stadtkirchengemeinde der Lutherstadt Wittenberg bei der dortigen Konzertlesung erleben dürfen, ist fraglich. Matthias Keilholz spielt am Flügel und singt, der Theologe und Schriftsteller Georg Magirius liest aus dem bei Coppenrath veröffentlichten Buch „Meine Bibel“, das Ursula Heeke lektoriert hat. – Fotos von (c) Regina Keilholz. – Das Motto des Abends „Wie Schnecken Schwung bekommen“ lässt keine eindeutige Prognose über die Länge des Abends zu. Schnecken haben kein hohes Gehtempo, genau genommen keins, weil sei kriechen. Aber falls sie wie angekündigt Schwung bekommen und ein nahes Ziel anstreben, könnte der Abend durchaus ein Ende finden.
Hör bald auf!
An ein nahes Ziel glauben manche der Besucherinnen und Besucher nicht: Denn das 90 Minuten nach Beginn der Konzertlesung startende Endspiel um die Nummer Eins im europäischen Vereinsfußball haben sie schon abgeschrieben. Allerdings befinden wir uns in der Lutherstadt Wittenberg, was wieder auf eine überschaubare Dauer des Abends hinweisen könnte. „Tritt frisch auf, tu’s Maul auf, hör bald auf!“, rät Martin Luther, wenn es – wie jetzt im Bugenhagensaal – darum geht, Stoff aus der Heiligen Schrift im Sprechen gleichsam zu verflüssigen und neu zum Leben zu verhelfen. Johannes Bugenhagen allerdings, Namenspatron des Saals der Schnecken-Konzertlesung, hielt sich nicht daran. Seine Predigten waren so beharrlich ausufernd, dass Luther die Gemeinde schon mal (einschließlich sich selbst) als Opfer von Bugenhagens Marathonpredigten bezeichnete. Und vertrat jemand kurzfristig den Wittenberger Stadtpfarrer Bugenhagen, waren die Vorbereitungen für das Essen nach dem Gottensdienst daheim gerade erst angelaufen, so überraschend zeitig kehrten die Hörenden nach Hause zurück.
27 Jahre zuvor
19 Uhr 30: Matthias Keilholz, Stadtkirchenpfarrer und damit aktueller Nachfolger von Johannes Bugenhagen, macht das Maul auf. Auffallend kurz. Denn er begrüßt schlicht die Gekommenen. Ansonsten werde er singen und die Tasten drücken, sagt er. Spricht das für einen kurzen Abend? Bedingt. Denn er lässt noch durchsickern, dass die Probenarbeit für den Wort-Klang-Dialog mit Magirius eine Dimension erreicht hat, die am besten in Jahren auszudrücken ist. Vor 27 Jahren hätten diese Arbeiten in Friedberg in Oberhessen begonnen. als Keilholz und Magirius am Theologischen Seminar erstmals ins dialogische Singen, Spielen und Sprechen gerieten. Blick zur Uhr: Es ist 19 Uhr 34.
Wege sparen
Ausführlich schildert Magirius, wie Schnecken Wege finden, falls sie einmal aufbrechen. Es gebe nämlich besonders zögerliche Schnecken, die sich an Weggabelungen kaum entscheiden können. Und nach der endlich getroffenen Entscheidung diese bald revidieren und zum Ausgangspunkt zurückkriechen. Musiker Keilholz nimmt das Gesagte mit Empathie auf, schlägt also kein Renn-Tempo an. Aber dann! Magirius bringt den Gedanken ins Spiel, dass Schnecken nun mal das ihnen gemäße Tempo haben, sie keine Formel-1-Rennfahrer sind. Diese kämen ohnehin nicht weit, weil sie im Kreis fahren. Dazu hätten sie nicht mal wie Schnecken eine Übernachtungsmöglichkeit bei sich, die den Kriechenden lange Wege erspart.
Rasante Neuerung
Kurzum: Schnecken sind gar nicht unbeweglich. Und haben die Fähigkeit zum Ankommen, Aufhören und Neubeginnen. Das zeigt sich bei Petrus und Andreas, die sich gewiss manchmal wie Schnecken gefühlt haben, waren sie doch immer nur am See Genezareth. Sie fischten, um nach getaner Arbeit ins gewohnte häusliche Ambiente zurückzukehren. Kommt, sagt Jesus. Sie kommen mit. Eine gravierende Neuerung, geben sie doch den Beruf auf – und zwar “alsbald”, also unmittelbar, rasant, sofort, wie es im Matthäusevangelium heißt.
Alles beginnt bei Null
19.47 Uhr. Umwegfrei wechseln Worte und musikalische Improvisationen hin und her, überlagern und mischen sich, ohne dabei die Ruhe zu verlieren. Da ist von Tomaten mit und ohne Salz die Rede, vom Hochspringen und der Lieblingseissorte. Von Bergängern, Berggipfelbetrachtern und einer aus der Wolke gefallenen Stimme. Von trockenem Brot, das nach Freiheit schmeckt, und dem Wohngebiet “Im Teich”, in dem keiner, der dort wohnt, nasse Füße bekommt. Nach nicht mal einer Stunde glückt es. Die Vortragenden hören auf. Neues beginnt. Die, die eben hörten, sprechen jetzt. Die eben sprachen und spielten, hören. So tauscht man sich aus. Und selbst danach muss noch niemand hetzen, um aus dem Bugenhagensaal hinaus an einen Ort zu kommen, wo zu sehen und zu hören ist, wie beim Finale der Champions League noch nie Dagewesenes anbricht: Der Schiedsrichter pfeift. Und alles beginnt bei Null.