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Eine besondere Form der Heimatliebe

Der Premiere-Decoder hat nie Eingang ins Haus gefunden, schreibt Danny Neidel in seinem im Arete-Verlag veröffentlichten Buch „Fußballheimat Thüringen”. Lieber verlässt er bis heute das Haus, um als Fan seiner Begeisterung für das runde Leder nachzugehen. Rundes Leder – das ist keine altertümliche Bezeichnung für das, worum es in dem Buch geht. Denn der Autor stellt “100 Orte der Erinnerung” vor. Und mit ihnen Geschichten, Machenschaften, Erfolge, Abstürze, Sonderbares und Kurioses. Oft stammen sie aus Zeiten, als der Fußball tatsächlich noch aus Leder war. Es ist eine besondere Form der Heimatliebe, weil sie unschöne Seiten nicht übergeht.

Ohne Mannschaftsarzt

Danny Neidel ist seit 2018 mit „Brennpunkt Orange“, dem ersten Thüringer Fußball-Podcast, auf Sendung. Dort und in seinem Buch bringt er zur Sprache, was vielen als unterrangig gilt. Nur verblüfft und vergnügt er damit mehr als das Gros der Erstligaberichterstattung. So gehörten beim ersten Spiel in Thüringen 1893 zwischen Jena und Leipzig im kleinen Paradiese ein Candidatus theologiae und ein Mediziner zum Tross der Gastgeber, allerdings nicht etwa als Mentalcoach und Mannschaftsarzt. Beides waren Spieler.

Ballfahrtsort

In Lobenstein konnte bei 30 Grad nur noch die Feuerwehr den staubigen Sandplatz spielfähig halten. Einen festen Platz hatte der Sportverein Gebesee erst gar nicht, sondern musste in den 1920er Jahren wegen der wilden Gera „Sonntag für Sonntag auf verschiedenen Wiesen die Holztore auf- und nach dem Spiel wieder abbauen“. In Bad Tabarz findet sich in einem ehemaligen Kuhstall ein Ballfahrtsort: eine an Raritäten reiche Fußballausstellung. In Rudolstadt wiederum kommt es in den 70er Jahren zu einer spürbaren Favorisierung zweier Farben, weil die BSG Chemie des Stadtteils Schwarza in der zweitklassigen DDR-Liga antritt: „Lange Zeit gab es im Kaufhaus keinen grünen und weißen Fahnenstoff mehr, da die Fans diesen aufgekauft und sich zahlreiche 3×3 Meter große Fahnen genäht hatten.“

Überraschungsgast

Eine offenbar bis heute nicht erlahmte Leidenschaft. Denn erst kürzlich wurde die Herausforderung der Zerstörung der Sportanlage in Schwarza durch Wildschweine gemeinsam gemeistert. In Serba besucht 2014 ebenfalls ein ungebetener Gast das Spielfeld: ein Flitzer. Den Fortgang der Partie unterbricht nach einer halben Stunde ein abschüssig geparktes Auto, das ins Rollen kommt. Die Handbremse war nicht angezogen, knapp verfehlt es den Schiedsrichterassistenen und kommt auf dem Platz zum Stehen. Die bis dahin ereignisarme Partie nimmt Fahrt auf, es fallen noch sechs Tore.

Das schönste Stadion Deutschlands

In Zeiten kaum noch unterscheidbarer Stadionkessel wirken einige Erinnerungsorte wie eine Revolution inmitten einer auf Hochglanz polierten Monotonie. Etwa eine Tribüne in Suhl: In dem 13-stöckigen Hochhaus hinter der Gegengerade hatten zu DDR-Oberliagazeiten 300 Zuschauer beste Sicht. Dort waren außerdem Kameras aufgestellt, weil im Stadion für sie kein Platz war. Der Autor widmet sich jedoch auch Holztribünen. Geschichtsträchtig, aber dem Verfall preisgegeben ist die Tribüne der Manfred-von-Brauchitsch-Kampfbahn in Arnstadt-Rudisleben. Genauso sind die Bänke der Hauptribüne im Waldstadion „Kaffeetälchen“ in Tiefenort im Thüringer Wald aus Holz. Die Anlage sei wegen seiner gewaltigen Ränge, dem Eingangstor und seiner Lage im Wald übrigens “das schönste Stadion in Deutschland”.

Selbst entschieden

Weil das Spiel oft Hochgefühle auslöst, fallen aber auch deutlich Verfehlungen, Brüche und Abbrüche auf. Sportanlagen werden zeitweise als Erdbeerfelder oder Kartoffelacker genutzt. Der mehrfache Bezirksliga-Torjäger Andreas Weinert von BSG Motor Schmölln durfte in den 80er Jahren nach seinem Wechsel zu Zwickau auf Betreiben von Lok Leipzig lange Zeit nicht spielen. Wiederholt war er von den Messestädtern umworben worden, wollte aber selbst entscheiden, für welchen Verein er den Ball ins Tor befördert. In Christes wiederum verhinderte die Staatssicherheit ein immer wieder neu angesetztes Freundschaftsspiel zwischen der thüringischen BSG Aktivist Borsch / Rhön und dem hessischen SV Steinbach.

Antwort

Dass der Autor im Zusammenhang mit dem runden Leder Unrundes erzählt, macht die “Fußballheimat Thüringen” zu einem Rettungsbuch. Es schützt vor drohendem Vergessen und rehabilitiert nahezu Vergessene. Nicht zuletzt auch wegen seiner atmosphärischen und oft weit über den Moment hinaus weisenden Fotos gibt Danny Neidel eine konstruktive und faszinierend menschenfreundliche Antwort auf die Erfahrung von Verlust. Von ihr nimmt sich der 1974 geborene Autor nicht aus, konstatiert er doch eingangs nüchtern, dass ihn “die Wende und das Verschwinden von Spielern, Freunden und Arbeitsplätzen für das ganze Leben“ prägten.  

Welt

Aber verliert sich ein mit eher übersehenen Plätzen reiches Buch nicht im Randständigen? Gerade Danny Neidels Regionalbuch mit seiner Sympathie für das, was außerhalb der ersten Liga geschieht, geht es um die Welt. Es hebt sich wohltuend vom medialen Fußballdauerrauschen ab, das von einem quotenträchtigen, angeblichen Superlativ zum nächsten schaltet, ohne dass davon viel hängen bleibt. Neidel weist lieber auf den Gründungsort des Arbeiter-Turnbundes in Gera hin. Und erinnert damit an eine Fußball-Kultur, die bis zur Gleichschaltung durch die Nazis jenseits des DFB und der damals als bürgerlich geltenden Vereine existierte. Anfangs bewusst ohne Konkurrenzdenken, ab 1919 mit einem eigenen Ligaystem auf Kreis- und Regionalebene.

Buchenwald

Ein weiterer im Buch vorgestellter Erinnerungsort: die Gedenkstätte Buchenwald. Die Fußballspiele im KZ in Buchenwald waren für die SS eine Möglichkeit, ein Bild freudiger Stimmung zu inszenieren. Über ein Spiel berichtet der überlebende Häftling Tadeusz Borowski: „Der Ball wanderte von Fuß zu Fuß und kehrte in einem Bogen vors Tor zurück. Ich wehrte ihn ab, aber er ging ins Aus – Ecke. Wieder ging ich ihn holen. Als ich ihn aufhob, erstarrte ich: Die Rampe war leer. Ich ging mit dem Ball zurück und gab ihn zur Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast“.

Heimatliebe

Aber auch an einen lautstarken Protest von Spielern und Zuschauern gegenüber der NSDAP erinnert der Autor. Dazu kam es 1935 auf dem Sportplatz von Schwarz-Gelb Schwarza. Zu Gast war der 1. FC Schweinfurt 05, ein Freundschaftsspiel. Die Vorfreude auf die prominenten Gäste mit den Nationalspielern Andreas Kupfer und Albin Kitzinger war groß. Die Begegnung hatte dank seiner privaten Kontakte ein Spieler der Schwarz-Gelben organisiert, der Jude war: Martin Roßkamm. NSDAP-Kreisleiter Otto Recknagel versuchte vor dem Anpfiff Roßkamm vom Spiel auszuschließen, hatte aber offenbar nicht mit Gegenwehr auf den Rängen und der Spieler beider Seiten gerechnet, einer besonderen Form von Heimatliebe. Verlassen musste das Feld schließlich der Kreisleiter. Das Spiel, verspätetet angepfiffen, endete 9:4 für Schweinfurt. “Der Jude Martin Roßkamm wurde aus dem ‚deutschen’ Verein ausgeschlossen und seine Schwarzaer Mannschaftskameraden traten als Reaktion ebenfalls aus.“

Fußballheimat Thüringen

Danny Neidel, “Fußballheimat Thüringen – 100 Orte der Erinnerung”. Arete Verlag, 216 Seiten, 147 Farbfotos, 20 Euro. Der Autor ist seit 2018 mit dem ersten Thüringer Fußball-Podcast “Brennpunkt Orange” auf Sendung.